Fernsehretrowelle: Wetten, dass…? & TV total
Posted: November 18, 2022 Filed under: 3 mittwochsporträt Leave a commentAls die Welt noch in Ordnung war
Die Retrowelle spült gerade Dutzende alter Fernsehsendungen wie TV total oder Die 100.000 Mark Show durchs Programm. Aber warum? Eine Spurensuche zur morgigen Winterausgabe von Gottschalks ewiger Wettshow (Foto: ZDF), die bald wieder öfter laufen könnte.
Von Jan Freitag
Die Deutschen sind keine Fans robuster Revolutionen – auch wenn sie mittlerweile Motoren, Make-up, Milchprodukte so nennen. Abgesehen von 1989 also lag Lenin richtig, wir würden vorm Gleissturm eine Bahnsteigkarte lösen. Wie suspekt uns der Wandel verglichen mit dem Status Quo ist, erklärt aber auch ein Blick ins Fernsehprogramm: Bei RTL richtet Barbara Salesch, auf Sat1 talkt Britt Hagedorn und ProSieben hat TV total reanimiert, derweil Kai Pflaume aka JBK durch Hans Rosenthals Dalli Dalli hüpft.
Wenn Thomas Gottschalk Samstag blond wie 1999 zu Wetten, dass…? lädt, könnte man das Krisenjahr 2022 also glatt mit dem sorglosen von damals verwechseln, als die Twin-Towers noch über New York thronten, Stefan Raabs über den Maschen-Draht-Zaun sang und unser Geld zehn Groschen hatte. Apropos: Ulla Kock am Brink ist ebenfalls zurück auf großer Fernsehbühne, wo sie seit September Die 100.000 Mark Show moderiert.
Fast 22 Jahre nach der Währungsreform ist das im Gegensatz zur Idee fast schon ein origineller Titel – der gut 15 Jahre nach einem Revival mit Euro im Gewinntopf und Bause am Mikro bei doppeltem Nostalgiefaktor belegt, wer den Gebrauchtwarenfundus am liebsten durchwühlt. RTL-Geschäftsführer Henning Tewes klingt da geradezu drollig, wenn er seinen Sender als „Innovationstreiber“ bezeichnet.
Denn während sein Sender von Ruck Zuck über 7 Tage, 7 Köpfe bis Der Preis ist heiß so viel Tiefkühlkost erwärmt, dass selbst die Rückkehr von Tutti Frutti oder Pronto Salvatore nicht ausgeschlossen scheint, finden kreative Überraschungen allenfalls beim digitalen RTL+ statt. „Je unsicherer die Zeiten, desto größer der Wunsch nach Vertrautem“, sagte Tewes zum Mediendienst DWDL, „da fragt das Publikum Zeitreisen zu geliebten und vertrauten Fernsehmomenten nach“.
Für einen Bilderstürmer, der das Metier mal angebotsorientiert durcheinanderwirbelte, ist das ein nachfrageorientiertes, also mutloses Konzept. Schließlich haben die Privatsender ihre öffentlich-rechtliche Konkurrenz mit Der heiße Stuhl (Revival 2016), Glücksrad (Revival 2016) und RTL Samstag Nacht (Revival 2022) einst vor sich hergetrieben. Und während deren Retrowelle aktuell beim Herzblatt endet, recyceln kommerzielle Kanäle bereits Formate der Nuller, wie ProSieben mit Wok-WM oder Turmspringen zeigt.
Die erneute Rückkehr von Wetten, dass…? taugt da weder als Ausnahmeregel noch Gegenbeweis, denn Europas erfolgreichste Fernsehshow war ja nie weg. Im Gegenteil. Gleich nach Markus Lanz unseligen Finale 2014 wurden alle Herdplatten der Gerüchteküche an- und nicht mehr abgedreht. Bevorzugter Nachfolgekoch im medialen Kaffeesatzlesezirkel: Thomas Gottschalk. Von keinem Hüter des Fernsehlagerfeuers versprechen sich die Leute mehr hedonistische Ablenkung.
Das klassenlose Überwältigungseinerlei vom „goldenen Bub“, wie ihn Martin Walser lobte, hilft sogar den Ermüdungsbruch aktueller Fernsehunterhaltung zu schienen. Ob Musik, Mode, Mobiliar oder Medien: dass die Achtziger ihr Comeback mittlerweile im Jahres- statt Dekaden-Rhythmus feiern, dass selbst die ästhetisch grässlichen Neunziger so satisfaktionsfähig sind wie im Rokoko Puderperücken, hat ja nicht nur mit Nostalgie, sondern Fantasielosigkeit zu tun.
Neue Showformate? Erfinden praktisch nur noch Joko & Klaas, erzielen damit gegen Netflix, Gaming, Mediatheken aber nur noch geringe Quoten. Von 14 Millionen, die Tommi 2021 an der Wettcouch versammelte, können selbst Tatorte da nur träumen. Und wenn sich 2022 Herbert Grönemeyer dazu setzt und Robbie Williams, wenn wie immer kurz Hollywood gastiert (John Malkovich) und etwas länger Babelsberg (Veronica Ferres), wenn Bagger was balancieren und Bully blödelt, dann ist alles ein bisschen wie damals, als die Welt zwar nicht in Ordnung war, aber ein bisschen so wirkte.
„Wetten, dass…?“, 19. November, 20.15 Uhr, ZDF