Dschungel-GiGi & Dämonen-Gellar
Posted: January 23, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
16. – 22. Januar
Auch wenn der kulturelle Sonnentiefstand die Schatten kleiner Gernegroße meilenhoch wachsen lässt – unsere Zivilisation wird zurzeit gewiss anderswo angegriffen als im australischen Dschungel. Durchschnittlich fünf, sechs Millionen Fernseh- und nur unwesentlich weniger Online-Zuschauer:innen ergötzen sich zwar – widerwillig oder lustvoll – am Leid anusessender G-Promis. Das aber nimmt meistens nur einige der 120 Minuten pro Nacht ein. Den Rest dominieren soziale Interaktionen, die viel aussagen übers Land und seine Menschen.
Gut zusammengefasst im Statement des melodramatischen Machos Gigi, er werde hier „normal und alle anderen immer verrückter“, hat sich das stetig fortalphabetisierte Feld sexueller Diversität dank solcher Reflexionen eines maximal testosterongesättigten Mannes gerade auf LGiGiBTQI+ erweitert und verdeutlicht, was die Leute von IBES wirklich wollen: einen Bewusstseinswandel, der nicht sie selber betrifft. Veränderung, die andere durchmachen. Metamorphosen ohne Eigenanteil.
Die macht gewissermaßen auch RTL gerade durch, indem es fortan ohne Live-Bilder der heteronormativen Deppen-Raserei Formel 1 auskommen muss. Eine Rechte- und Bedeutungsverlust, den Deutschlands Leitmedien unterschiedlich bewerten dürften – darüber geben ja schon die Zusammensetzungen ihrer Führungsetagen Auskunft. Während linksliberale, also Redaktionen von der taz über Die Zeit bis zur SZ relativ viele (bis auf erstere aber weiterhin viel zu wenige) Frauen an der Spitze haben, sind rechtskonservative von Welt über Bild bis zum absoluten Schlusslicht FAZ überwiegend Männerbünde.
Apropos: Die Rolling Stones haben jetzt endlich auch einen TikTok-Kanal. Und nebenbei: die ZDF-Krimireihe Nord Nord Mord kratzt quotenmäßig mittlerweile an der Zehn-Millionen-Marke und damit am Tatort-Nimbus. Was umso erstaunlicher ist, als Streamingdienste ihre Zugriffszahlen noch immer nur zögerlich veröffentlichen. Das dürfte im Fall der Neustarts dieser Woche kaum anders bleiben.
Die Frischwoche
23. – 29. Januar
Dabei tut die klitzekleine Seriensensation alles, um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Zumindest alles, was schon mal erfolgreich war. Sarah Michelle Gellar ist zurück, und dass ihre Buffy der Neunziger im Fernsehen von heute abermals Dämonen jagt, hat nur am Rande mit der Monsterhatz von Wolf Pack zu tun, aber viel mit Markenkalkül von Paramount+ und anderen Portalen. MagentaTV zum Beispiel, dass parallel den BritBox-Sechsteiler Hotel Portofino zeigt.
Historische Dramen aus der Luxusgastronomie (Riviera) bildgewaltiger Jahrzehnte (Twenties) – trotz der wunderbaren Natascha McElhone als Hotelerbin ein eher berechenbares Thema. Das gilt auch für Shrinking, womit Arte tags drauf auf den gerngesehenen Zug therapiebedürftiger Psychotherapeuten und ihre Marotten, Laster, Konventionsbrüche springt – in diesem Fall Jason Segel und Harrison Ford bei Apple+.
Bei Arte reist The Newsreader ab Donnerstag dann zurück in die telegenen Achtzigerjahre, wo das Kollegium eines australischen Nachrichtenkanals seine Profilneurosen und Machtspielchen pflegt. Zwei Tage später dann erweitert One mit dem englischen Krimi Charlie Says den Kanon fiktionaler Deutungen rund um Charles Manson (Matt Smith) – diesmal aus Perspektive seiner weiblichen Sektenmitglieder. Nur allzu real ist hingegen der Themenschwerpunkt Vor 90 Jahren, in dem Arte zum Jahrestag der Machtergreifung (und der Auschitzbefreiung) den Aufstieg des Nationalsozialismus nachzeichnet.
Und zwei Tage nach dem 30. Geburtstag des tapferen kleinen Spartenkanals Vox, der mit Formaten wie Schmeckt nicht, gibt’s nicht oder dem Club der roten Bänder regelmäßig Fernsehgeschichte schreibt, kehrt zum Wochenende die heute-show auf den Bildschirm zurück bevor auch Böhmermanns ZDF Magazin Royale aus dem Winterschlaf erwacht – zunächst allerdings nur mit einen Live-Konzert der aktuellen Ehrenfeld Intergalactic Tour 2023.
Aiming for Enrike/AgarAgar/Johnny Notebook
Posted: January 20, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a commentAiming for Enrike
Ob es leichter ist, Grenzen leise zu übertreten oder laut zu überrennen, hängt von deren Stabilität ab. Wenn sie sich allerdings als so stabil und gleichsam fließend wie jene zwischen analoger und digitaler Musik erweisen, muss man es wohl mit ähnlich sanfter Wucht tun wie Aiming for Enrike. Seit vier Platten bereits treibt der Schlagzeuger Tobias Ørnes Andersen die Gitarren von Simen Følstad Nilsen mit technoider Präzision zu einer flächigen Form minimalistischer Krautrock-Electronica.
Jetzt erscheint das fünfte Album. Und Empty Airports ist nicht nur länger, sondern flächiger, krautiger, besser. Wie Jean-Michel Jarre auf Koks lässt das Osloer Duo seinen Instrumentalsound durch virtuelle Clubs mäandern und kreiert dabei Sinfonien von repetitiver Originalität, die sich schon im Titeltrack-Tryptichon pt. 1-3 zu einer mal glockenklaren, mal breiig sedierten Masse flatternder Beats übers Ohr stülpen. Nichts für den Moshpit, aber kleine Floors am Festivalrand, baumumstanden, lichtdurchflutet.
Aiming for Enrike – Empty Airports (Jansen Records)
Agar Agar
Was das französische Duo Agar Agar macht, galt dagegen bereits vor rund 20 Jahren unterm Begriff Electroclash als musikalischer Grenzübertritt, hat sich seither links und rechts der Schlagbäume konsolidiert, ist also nicht ganz so revolutionär wie seinerzeit Le Tigre, Miss Kitten, fischerspooner, Peaches oder das Berliner Jeans Team. Dennoch sorgen Clara Cappagli & Armand Bultheel für fabelhafte Feelgood-Melancholie, wenn sie in englischer Sprache über die Liebe oder ihr Ende singen und digitales Konfetti darüber streuen.
Bei Zeilen wie A dude on a horse with no horse weiß man dabei ebenso wenig, ob der Nachfolger des erfolgreichen Debütalbums wie ihr minimalistische Computerspielsound, der oft unter Player Non Player hindurchrätselt, poetisch oder dadaistisch ist. Sei’s drum: Cappaglis nachhallender Gesang holt den Cool der Achtziger in den Trash der Neunziger und macht daraus mit dem Wave der Nuller und ganz viel elaboriertem Unfug einen Electroclash, den man lange nicht gehört und dennoch ständig im Ohr hatte.
Agar Agar – Player Non Player (Grönland Records)
Johnny Notebook
Und um das kleine Eighties-Revival hier am Grenzzaun des vorherigen und anschließenden Jahrzehnts zu komplementieren, wird jetzt noch mal ordentlich das neue Album von Johnny Netbook gefeiert. Das Synthpunk-Duett aus den praktisch identischen Popkulturschmelztiegeln Madrid und Wuppertal prügelt wieder so hochbeschleunigte Beatgebirge aus retrofuturistsichem Weltraumschrott von Roland TR505 bis PolyKorg800, als säßen The B-52s mit Ziggy Stardust in einer Rakete zum Käsemond.
Schwer zu sagen, ob das Uptempo-Stakkato dieses Multilayer-Powerpops immer ernst gemeint ist, zwinkerzwinker. Stücke wie die entfesselt schnelle Dancefloor Queen oder das noch viel rasantere Rate Me Rate Me aber machen eine*n beim Hören von 28th Century Mates viel zu zappelig, um länger darüber nachzudenken, was denn die Metaebene dieses eklektischen Sammelsuriums sein könnte. Denn wie einst bei Spillsbury dürfen darin selbst nietenhosige E-Gitarrensoli zum Refrain-Geshoute nicht fehlen. Geil!
Johnny Notebook – 28th Century Mates (Sounds of Subterrenia)
Tobias Moretti: Der Gejagte & seine Tochter
Posted: January 19, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentTeufel riechen nur im Märchen nach Schwefel
Tobias Moretti (Foto: Barbara Gindl) hat zahllose Rollen gespielt, aber mit Tochter Antonia Im Netz der Camorra – das war 2021 neu für ihn. Ein mit dem österreichischen Charakterdarsteller über die Fortsetzung des ZDF-Films bei Magenta TV und wie viel Familie in Der Gejagte steckt.
Von Jan Freitag
Herr Moretti, wie ist das, wenn die eigene Tochter – und sei es nur am Set – eine Waffe auf Sie richtet?
Tobias Moretti: Gute erste Frage! Da kommen einem im ersten Moment in der Tat in einem Zeitraffer einige Bilder in den Sinn, Charakterblitze zwischen Kleinkind, Pubertät und Heute und Morgen. Wenn dann die Kamera läuft, ist man ganz in der Situation und in den Figuren, da ist die private Verbindung eigentlich ausgeblendet. Die Szene ist ja ein Schlüsselmoment für den Tiefststand, den die Beziehung zwischen Laura und Matteo zu Beginn des Films erreicht hat.
Dachten Sie in dem Moment, „die macht mir Angst“ oder „die macht das toll“?
Mit den Jahren kennt man Szenen und Szenarien, in denen eine Waffe auf dich gerichtet wird oder umgekehrt, das wird im deutschen Fernsehen oft verniedlicht. Man merkt, wie weit manche Kolleginnen und Kollegen von solchen Lebenssituationen entfernt sind. Für Antonia war so ein Szenario auch neu, und die Souveränität und Klarheit, mit der sie das gespielt hat, hat mich beeindruckt. Also: toll!
Wie ist es denn generell, mit ihr zu spielen?
Sehr professionell, klar, sie stellt die richtigen Fragen, ist unprätentiös und hat so was wie einen dramatischen Instinkt. So war mein Eindruck.
Ist das eine stärkere, womöglich aber auch geringere Intensität, weil man sich ja in und auswendig kennt?
Dieser private Eindruck ist vielleicht der erste, aber die Privatismen verflüchtigen sich eigentlich gleich. Es ist die Situation beider Figuren, die sehr intensiv und hoch emotional ist. Beide trauern um Stefania – Laura um die Mutter, Matteo um seine Frau. Aber sie trauern eben nicht gemeinsam, sondern zerfleischen sich dabei selbst in diesem monatelangen Eingesperrt-Sein.
Wer von beiden ist der jeweiligen Rollenfigur charakterlich ferner?
Was Laura angeht, kann Antonia das nur selbst beantworten. Wenn es um Matteo geht: Sein bedingungsloser Kampf ums Überleben und dass Lauras Existenz wieder ein erfülltes Leben haben könnte mit einer Perspektive, ist ja mehr als nachvollziehbar. Ebenso, dass der Schmerz um den Tod seiner Frau ihn zerreißt und fast zerstört. Er selbst ist der Grund, warum dies alles passiert. Schwerer ist es zu ermessen, was es heißt, mit einer solchen Vergangenheit zu leben: mit der Schuld, mit der Angst, die einen durch die Jahrzehnte begleitet und die man verdrängt – und auch mit dieser Angst, dass der innere Schalter mit einem Klick ihn wieder in sein altes kaltes Ich verwandeln kann.
Suchen Sie bei Ihren Rollen eher nach Nähe oder nach Distanz?
Sie meinen den eigenen Anker? Die analytische Beschäftigung mit Figuren ist eine Sache; daneben geht es natürlich darum, einem Rollencharakter oder Schicksal etwas zu geben, wo man etwas von sich selbst einhakt – ob Biografie oder Wesenszug.
Es gibt eine Szene im 2. Teil, da stehen sich deCanin und Erlacher mit gezogener Waffe gegenüber wie im Western. Ist diese Referenz bewusst gewählt?
Die Szene symbolisiert die grausam-ausweglose Pattsituation. Beide könnten ja unterschiedlicher nicht sein und wollen in dem Moment doch dasselbe. Für Erlacher ist es wahrscheinlich fast noch schlimmer als für Matteo: Ihm ist dieser DeCanin völlig fremd, aber er hat Empathie für dessen Schicksal. Und er verdankt ihm sein Leben, das schafft eine Bindung, obwohl man einen wie Matteo so weit wie möglich von sich weghalten will. Dass die Szene wie ein Western wirkt, hat also mehr mit der Bildauflösung zu tun, als dass man diese Metapher bewusst gewählt hätte. Aber es war ein guter Einstieg zum Spielen, weil man sofort auf einer dramatischen Höhe war. Es war im Übrigen die erste Szene am ersten Drehtag.
Bei Magenta TV übrigens, wo die Fortsetzung des ZDF-Dramas entstanden ist. Hat man die Streaming-Plattform beim Drehen gespürt?
Nein. Wohin Produzenten in Kooperation mit TV-Sendern ihre Produktionen vertreiben oder verkaufen, interessiert uns während des Drehs eigentlich weniger. Unsere Aufgabe ist es, ein gutes Produkt, eine besondere Arbeit zu machen, so dass sich das Ergebnis eben auch gut verkaufen lässt.
Nach Teil 1 und Euer Ehren waren Sie seit 2021 dreimal Teil der Mafia, wenn man die des Fußballs in Das Netz oder der Finanzwelt in Bad Banks dazu nimmt, mindestens fünfmal in fünf Jahren. Ist das Zufall?
Diese drei Geschichten haben eigentlich nichts miteinander zu tun. Es ist das Genre, das den Plot vorgibt. Das einzig Verwirrende in diesem Fall war die zufällige Namensähnlichkeit in den Untertiteln Im Netz der Camorra und Das Netz – Prometheus. Das Mafia-Milieu ist prototypisch für die Brutalität der Welt: einerseits rohe Gewalt, andererseits undurchschaubare Unterwanderung und Infiltration vieler Lebensbereiche, die lange unbemerkt bleiben. Das macht dieses Milieu seit Bestehen des Films geeignet für dieses Medium.
Ist es dabei eine Frage von Physiognomie und Spiel, dass Sie sich gut für die kriminelle Seite eignen?
Glaube ich nicht. Das hieße ja, dass man den Mafiosi das Mafiöse im Gesicht ablesen könnte. Da wäre dann die Welt wirklich viel einfacher. Der Teufel hat nur im Märchen einen Klumpfuß und riecht nach Schwefel.
Sind Sie als Mensch ein Typ, der Gelübde bricht wie deCanin die Omertà?
Die Entscheidung für die Familie, für Stefania und Laura, die DeCanin getroffen hat, ist auch ein Gelübde, eben das Versprechen von Liebe und bedingungsloser Zugehörigkeit, und das wiegt für Matteo einfach höher als diese vermeintliche Verpflichtung gegenüber dem Clan, in die er hineingeboren wurde. In der Wahrnehmung der Mafiawelt spielt die Behauptung von familiären „Ehren“-Codices oft eine große Rolle; aber in Wirklichkeit geht es meistens um Geld, um Macht und brutale illegale Geschäfte, an denen verdient wird.
Ist „Der Gejagte“ trotz Mafia-Patin und Ihrer Tochter ein Stoff von Männern mit Männern für Männer?
Manche Frauen behaupten, in einer Welt der Frauen gäbe es weniger Gewalt. In der komplexen Struktur von rationalen Entscheidungen, wie sie unsere merkantile Welt vorgibt, mit aller Brutalität, glaube ich das nicht mehr.
Welches Männlichkeitsbild wird darin transportiert? Oberflächlich scheint es ein traditionelles, fast atavistisches zu sein.
Für Matteo oder Erlacher kann ich das nicht sehen. Am ehesten könnte man von Sorrentino sagen, dass er nach anachronistischen Rollenmustern funktioniert, aber damit scheitert er ja letztlich. Schon in den 90er Jahren erschien ein Buch über die unterschätzte Rolle der Frauen in der Mafia. Die stellen den Clan-Chefs nicht nur die Pasta auf den Tisch.
Was ist Ihr Selbstbild, welche Art Mann wollen Sie sein?
Als Schauspieler beschäftigt man sich mit „Rollen“ in jeder Hinsicht, das heißt, man hat auch zu Geschlechter-Rollen analytische Distanz. In der Pubertät war es für mich nicht leicht, dass ich ein eher sensibler Bursche war, der sich für klassische und Kirchenmusik interessiert hat. Später hat das Leben viele Rollen für mich bereitgehalten, in die ich dann hineingewachsen bin, und das betrifft auch meinen Beruf. Welche Art Mann ich da sein will? Dazu habe ich eigentlich nur die Assoziation, dass man Reich-Ranicki mal die Frage gestellt hat: „Wer oder was hätten Sie sein mögen?“ Seine Antwort war: „Schlank.“
Wie weit würde dieser Mann gehen, um seine Familie vorm Bösen zu beschützen?
Die Meinen sind das Zentrum meines Daseins, die ich um alles in der Welt schützen würde. Wie weit man dafür gehen würde, habe ich bis jetzt in meinem Leben, Gott sei Dank, nicht in letzter Konsequenz ausloten müssen. Aber wozu ein Mensch fähig ist, wissen wir auch.
Klamroths Härte & Skys Pilze
Posted: January 16, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
9. – 15. Januar
Mehr als zwei Jahrzehnte lang konnte man Woche für Woche fragen, ob Hart und teils fair nicht der bessere Titel für Frank Plasbergs leicht populismusanfällige ARD-Talkshow Hart, aber fair gewesen wäre. Jetzt hat Louis Klamroth das Format übernommen, und nach seiner Premiere scheint denkbar, dass es die ARD in Hart oder fair umbenennt – vergaß der junge Influencer vor lauter Premierenfreundlichkeit doch, auch mal die härtere Gesprächsbandage anzulegen. Na, das kann ja noch kommen.
Etwa wenn der Freund von Klima-Aktivistin Luisa Neubauer nicht über Preisspiralen in Dauerkrisen debattiert, sondern – sagen wir: lügnerische Polizeipressestellen. Im Anschluss an die Silvesternacht-Krawalle zum Beispiel hat die Berliner schnellstmöglich 145 „vorwiegend migrantische Täter“ vermeldet, die Ordnungskräfte mit Böllern attackiert hätten. Mittlerweile jedoch musste die Polizei-PR ihre Zahl auf Nachfrage kritischer Medien unter 40 vorwiegend deutsche Täter reduzieren. Einsicht, gar Eingeständnisse? Fehlanzeige!
Mindestens mitschuldig am polizeitaktischen Täuschungsmanöver sind aber deren Objekte: Journalist:innen nämlich, die staatliche Verlautbarungen völlig unkritisch übernehmen, als wäre der Staat unfehlbar. Wie wenig er das ist, hatte Berlins Polizei kurz zuvor im Kampf gegen sogenannte Klima-Kleber gezeigt, die sie fälschlich für einen Unfalltod verantwortlich gemacht hatte und trotz der offensichtlichen Fehlinformation seither routinemäßig abfragt, ob Staus mit Umwelt-Aktivismus zu tun haben.
Wer da definitiv härter nachhakt als Louis Klamroth, ist bisher Anne Will – die Luisa Neubauer gestern allerdings vor allem zum Bild-Fetisch gewalttätiger Demonstrant:innen verhörte und Ende 2023 nach 16 Jahren eigene Talkshow aufhören will. Nach einem Jahr Pause hat CBS am Dienstag wieder die Verleihung der jahrzehntelang männerblütenweißen Golden Globes übertragen, wo man sich erstmals seit 1944 spürbar um Diversität bemühte. In der Fernsehsparte am erfolgreichsten: Abbott Elementary mit drei und The White Lotus mit zwei Preisen, während Im Westen nichts Neues aus Deutschland (wie auch bei den Critics Choice Awards) leerausging.
Die Frischwoche
16. – 22. Januar
Was Anfang 2024 definitiv nicht leer ausgehen dürfte: die Videospiel-Adaption The Last of Us, ab heute bei Sky und Wow. Die GoT-Stars Pedro Pascal und Bella Ramsey ziehen darin inmitten einer Pandemie übergriffiger Pilze, die Befallene zu – dummerweise sehr schnellen – Zombies machen, durch Amerika und versuchen, bei der Suche nach einem Heilmittel zu helfen. Trotz zuweilen leicht absurder Menschenpilze ist das erzählerisch, ästhetisch, atmosphärisch eine glatte 1.
Die kriegt auch Kida Ramadans Fernsehserie Asbest mit dem Rapper Xidir als Häftling, der sich den Frust über die falsche Verurteilung und all jene im eigenen Clan, die dafür verantwortlich waren, ab Freitag bei One mit Knastfußball abtrainiert. Wie so oft bei Kiezstudien von/mit Ramadan, ist der gewaltstrotzende Realismus darin auf unglaubliche Art authentisch. Eine glatte 2 immerhin gibt es für den Sechsteiler Bonn, ab morgen im Ersten.
Anders als im Historytainment seit Guido Knopps rechtspopulistischem Feierabendrevisionismus üblich, zeichnet Autorenfilmerin Claudia Garde darin nämlich kein Wirtschaftswundermärchenland voller NS-Opfer, sondern eine Jung-BRD, in der die Adenauer-Regierung alles dafür tut, NS-Täter zu integrieren. Während der reale Verfassungsschutz-Präsident (und einzige Widerstandskämpfer in relevanter Führungsposition) Otto John (Sebastian Blomberg) dagegen rebelliert, bietet die fiktive Toni (Mercedes Müller) aber auch Herzschmerz, keine Sorge.
Um im Schulmodus zu bleiben: Für ihre männlichen Charaktere kriegt die Vorabendserie Hotel Mondial ab Mittwoch in der ZDF-Mediathek knapp ausreichend. Weil die weiblichen Figuren darin durchaus vielschichtig bleiben und Folge 2 nächste Woche mehr Tiefgang erhält, gibt’s aber doch eine 3-. Von der Benotung verschont bleiben folgende Serien: Koala Man (Mittwoch, Disney+), Animationsserie um ein Supertier ohne Superkräfte. Rod Knock, norwegische Dramaserie (Samstag, ZDF) und Thunder in my Heart, achtteilige Coming-of-Age-Studie aus Schweden (Sonntag, SWR).
Belle and Sebastian, Liela Moss, Phal:Angst
Posted: January 14, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 5 freitagsmusik | Leave a commentBelle and Sebastian
Die mittleren Neunziger, frühe Millennials erinnern sich, waren das Hochplateau des Britpop. Oasis, Suede, Blur, Verve hoben die gediegene Hochnäsigkeit auf ein soziokulturell phänomenales Niveau, und immer im Schlepptau, vom Mainstream eher geduldet als mitgerissen: Belle and Sebastian. Vielleicht, weil es aus dem schottischen Inselteil stammt, dudelt der Tweepop des Glasgower Kleinorchesters eher so im Hintergrund mit – entfaltet dort aber bis heute hörbaren Eigensinn.
Das neue Album macht das Dutzend harmonisch-munterer Platten voll und straft den Titel Late Developers damit Lügen. Denn so gut wie hier waren sie schon bei der Bandgründung 1996 entwickelt und klingen dabei bis heute nach dieser betörenden Melange aus Velvet Underground und Yo La Tengo, als läge der selige Jeff Beck mit Lou Reed bekifft im Schaumbad. Immer eine Spur zu viel ESC im Arrangement, immer facettenreich genug, dass der Indiefaktor im Britpop-Belcanto dominiert.
Belle and Sebastian – Late Development (Matador)
Liela Moss
Während sich die Songwriterin Liela Moss um Kategorien wie muntere Harmonie wenig schert, ist ihr Facettenreichtum umso gewaltiger. Seit fünf Jahren solo, ist die frühere Sängerin von The Duke Spirit stets auf der Suche nach den Abseiten tradierter Songstrukturen, ohne ganz vom Pfad der Hörbarkeit abzuweichen, und jetzt wieder fündig geworden. Denn ihr drittes Album Internal Working Model modelliert wieder synthetische Alternative-Plastiken von zerkratzter Schönheit.
Textlich eher auf der schattigen Seite des Lebens, durchsetzt von Alltagsproblemen und Gelegenheitschaos, klingt die Britin erneut ein bisschen wie Tori Amos mit einer Portion Wut im Bauch. Aber es klingt eben konstruktiv, was aus Stücken wie Empathy Files sickert, in dem sie zum Auftakt über kommunikativen Beziehungsstress singt und düstere Synths darüber kippt wie knallende Türen. Eigentlich kein guter Gesprächsstil, wirkt die ständige Kakophonie allerdings beruhigender als aufgestauter Zorn. Raus damit!
Liela Moss – Internal Working Model (Bella Union)
Phal:Angst
Und um den Hang zur Disharmoniesucht hier auf die Spitze zu treiben, gibt es Neues von Phal:Angst. Für Außenstehende: seit beinahe zwei Jahrzehnten schon zerdeppert das Quartett aus Wien mit industrieller Lust handelsübliche Metriken und kreiert damit musikalische Schwelbrände, für die das Wort Post-Rock mal erfunden wurde, um zu sagen: so wie bislang geht’s nicht weiter, also machen wir alles wie vorher, nur ein wenig krasser, rauer, dystopischer.
Und so klingt denn auch das neue, fünfte Album Whiteout ein bisschen wie Western-Noise aus dem elektroanalogen Folterkeller. Hier mal vereinzelte Gitarren-Pics, dort flächige Breitseiten, beides zusammen einstürzendeneubautenartiger Retrofuturismus mit seltenem Flüstergesang, der nur durch eine Hintertür erahnen lässt, dass die Vorgänger Phal und Projekt Angst der österreichischen Hardcore/DIY/Punkrock-Ecke entstammen, dann aber mit Nachdruck.
Phal:Angst – Whiteout (Noise Appeal Records)
Natalie Scharf: Frühling & Depeche Mode
Posted: January 12, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentNennen sie mich Filmemacherin!
Mit dem ZDF-Sechsteiler Gestern waren wir noch Kinder hat die schreibende Produzentin Natalie Scharf nicht nur ein fesselndes Familiendrama kreiert, sondern die Rolle der Frau im Thriller neu definiert. Ein Interview mit der Frühling-Autorin über Regisseurinnen, Soundtracks, Psychologie und was Drehbücher mit Mathe zu tun haben.
Von Jan Freitag
Frau Scharf, bezeichnen Sie sich eigentlich als Showrunnerin?
Natalie Scharf: Eher als schreibende Produzentin. Ein befreundeter Neurochirurg sagte mal zu mir, bei Operationen sei es das Beste, alles zu können. Das möchte ich auch, weshalb ich bei dieser Serie zum Beispiel komplett im Schnitt war und nachher in die Mischung der dritten Folge muss. Aber wenn Showrunnerin bedeutet, dass die Produzentin mit der Autorin direkt über bestimmte Einstellungen und deren Preis verhandeln kann, bin ich wohl doch eine. Am liebsten wäre mir aber, Sie nennen mich Filmemacherin.
Gehen beide da förmlich in den äußeren Dialog?
Das nicht, aber ein innerer Monolog ist es manchmal schon. Reden tue ich lieber mit anderen.
Falls Sie auch gern mit anderen feiern gehen: Wissen Sie schon, was Nina Wolfrum am 7. oder 9. Juli 2023 mit Ihnen machen könnte?
Huiuiui (lacht). Nein, wissen Sie es?
Das spielen Depeche Mode in Berlin. Wenn man sich „Gestern waren wir noch Kinder“ ansieht, besser: anhört, klingt die Serie nach deren Greatest Hits.
Wir sind tatsächlich beide Fans. Nina wollte Dave Gahan, zu dem wir wegen der Songrechte Kontakt aufnehmen wollten, sogar mal heiraten (lacht). Wenn ich an einem der beiden Tage in Berlin wäre, würde ich also vielleicht sogar hingehen. Aber dass viel Depeche Mode läuft, hat am Ende doch mehr mit dem Zeitgeist der Serie als uns zu tun. Bei der Hauptfigur verkörpert die Musik zum Beispiel den Freiheitsdrang, sich aus seiner reichen Bubble zu lösen und Schlagzeuger zu werden.
Music safed his life!
Nicht nur seins, das der meisten! Wer eine Serie macht, die Gestern waren wir noch Kinder heißt, erzählt ja automatisch von verwehter Jugend, die von Musik begleitet wird. Diese Emotionen soll der Soundtrack vermitteln.
Und war demnach schon im Drehbuch enthalten?
Ja! Sogar der Sound eines schwarzen Lochs, den wir für Folge 7 von der NASA angefragt haben, ist enthalten. Ich schreibe generell sehr detailliert, selbst Kameraeinstellungen sind schon enthalten.
Weil Sie so ein Kontrollfreak sind?
Weil es mein Anliegen ist, möglichst präzise aus komplexen Figuren heraus zu erzählen, also skandinavisch, hochwertig psychologisierend, ein bisschen – auch, wenn es vermessen klingt – wie Big Little Lies zu inszenieren.
Eine Serie um fünf weibliche Hauptfiguren, die allerdings von Männern stammt. Wie wichtig war es Ihnen, mit Nina Wolfrum eine Regisseurin an ihrer Seite zu haben?
Bis mich eine ihrer Kolleginnen darauf hingewiesen hat, war es mir gar nicht so bewusst; zumal ich bislang selten mit Regisseurinnen zu tun hatte, von denen es lange gar nicht so viele gab. Aber beim fertigen Format fiel mir auf, dass es mit Männern vermutlich ein anderes geworden wäre; was ich an Ninas Arbeit toll finde, ist zum Beispiel die Art, wie sie kleinste Details bis hin zur Weinflasche, die irgendwo rumliegt, mit ihrem Erfahrungsschatz abgleicht und entsprechend inszeniert. Ich arbeite wirklich unfassbar gern mit Männern zusammen.
Aber?
Dank Nina haben wir eine sehr weibliche Serie gemacht, und im Grunde will ich genau da hin, weil meine Vorbilder nun mal Reese Witherspoons Morningshow ist oder eben Big Little Lies.
Deren 2. Staffel dann auch eine Frau inszenierte.
Und vielleicht deshalb auch vor der Kamera praktisch männerfrei war, was ich auch wieder bisschen schwierig fand.
Bei „Gestern waren wir noch Kinder“ fällt dagegen auf, dass zwar in nahezu jeder Situation Frauen zentrale Figuren sind, aber fast immer Objekte männlicher Subjekte und damit irgendwie eher getrieben als eigenständig.
Sehr kluge Beobachtung, die psychologisch genauso geplant war. Obwohl sich Frauen von dieser Objektrolle stark emanzipieren, stellt sie noch immer eine gesellschaftliche Realität dar, die allerdings nun unterschwelliger ablaufen muss.
Weil der alleinverdienende Beschützer ausgedient hat?
Genau. So sehr der Plot aus Figuren heraus, von denen mir einige auch im wirklichen Leben begegnet sind, erzählt wird, vollzieht er sich eben entlang eines haudünnen Thrillerfadens, in dem der Mörder ein Mann ist.
Wie hoch ist denn der Anteil persönlicher Bezüge?
Hoch. 85 Prozent?
Was die Figuren betrifft oder auch die Handlung?
Beide, aber die Menschen sind mir vertrauter und den meisten Spaß bereitet mir die Kombination. Auch Hemmingway saß ja gerne in Kneipen herum und hat sich das Verhalten der Leute notiert. Oh Gott, erst Big Little Lies, jetzt Hemmingway – was für Vergleiche…
Entstammen Sie selbst eigentlich dem gehobenen Bürgertum ihrer Seriencharaktere?
Zum Teil. Meine Mutter war Malerin, mein Vater Neurologe mit eigener Psychiatrie und sein Vater wiederum Physik- und Mathematikprofessor. Wobei mein Vater als Sudetendeutscher Jahrgang 1928 auch eine Flüchtlingsgeschichte hat und noch vom Aberglauben seiner alten Heimat geprägt war.
Kunst, Psychologie, Logik, Mystizismus: Topvoraussetzungen für eine Thriller-Autorin!
(lacht) Drehbücher haben mehr mit Mathe zu tun, als man denkt. Hinzu kommt: mein Vater hatte ein extremes Arbeitsethos. Schon, weil man in München auch damals kaum genug Geld verdienen konnte, um sich den Wohnraum dort zu leisten. Das fließt alles zu 100 Prozent in meine Arbeit ein.
Aber so sachlich sie Ihre Arbeitsgrundlage im Allgemeinen ist und „Gestern waren wir noch Kinder“ im Besonderen: Am Ende ist die Serie larger then live – so viel passiert in so kurzer Zeit den wenigsten!
Ich glaube gar nicht, dass die Geschichte so viel größer als das Leben ist. Unter den 100 Drehbüchern, die ich geschrieben habe, kann ich mich mit diesem hier am meisten identifizieren. Schon, weil ich damit mehr Zeit denn je verbracht habe.
Wie nah ist Ihnen verglichen damit denn Ihre Frühling-Reihe mit Simone Thomalla als Dorfhelferin in einer vergleichsweise harmlosen ZDF-Welt?
Dazu muss ich vorweg eins sagen: Ich wollte Frühling nie machen, bis Nico Hofmann vor zwölf Jahren zu mir meinte, du musst! Deshalb war ich am Anfang eher reserviert, liebe die Reihe mittlerweile aber wirklich.
Weil?
Weil sie gar nicht so leicht ist, wie es in der traumhaftschönen Alpenkulisse scheint. Und weil „Frühling“ wie Stricken ist, um mich von noch schwereren Stoffen immer wieder runterzuholen. Der Auftrag, sich jährlich sechs Folgen von Frühling mit denselben 13, 14 Figuren auszudenken und damit sechs Millionen Zuschauer zu halten, ist überaus anspruchsvoll und hält mich in Übung.
Eine Hauptdarstellerin beider Formate ist Julia Beautx, eigentlich eher Influencerin als Schauspielerin. Ist das eine betriebswirtschaftliche Entscheidung, um jüngere Zielgruppen anzusprechen?
Julia ist besser als manch ausgebildete Darstellerin und sowieso unfassbar; das fanden auch viele bei der Mipcom Cannes, wo Gestern waren wir noch Kinder gezeigt wurde. Als ich Julia vor sechs Jahren kennengelernt habe, hatte sie übrigens eine Million Follower, jetzt sind es dreieinhalb; hat sich also für alle gelohnt. Ich würde lügen, dass mir ihre vielen Fans egal sind, aber unabhängig davon hat sie sich in einem riesigen Casting gegen alle anderen durchgesetzt – auch Nina Wolfrum übrigens, die von der Idee am Anfang gar nicht überzeugt war.
Vorsicht vor Vorurteilen.
Hinzu kommt, dass Julia zwar Videos macht, seit sie 13 ist. Aber ich kenne niemanden, der bodenständiger und disziplinierter ist.
Apropos bodenständig: eine Szene in Gestern waren wir noch Kinder scheint in Brooklyn zu spielen.
Nicht scheint, die spielt dort.
Wie haben Sie diesen Etatposten denn bitte beim ZDF durchgekriegt?
Indem ich die Serie so liebe, dass es mir unerlässlich erschien, die Szene dort zu drehen. Aber weil man so was beim ZDF nicht durchkriegt, bin ich mit Milena Tscharnke dorthin geflogen, habe mir eine kleine Crew aufgebaut und alles für diese zwei Minuten privat bezahlt.
Ernsthaft?
Ernsthaft!
Hoffnungsschimmer & Chippendales
Posted: January 9, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
2. – 8. Januar
Wenn ein Jahr wie 2022 zu Ende geht, müsste die Hoffnung aufs nächste doch eigentlich alle Schatten der Furcht überstrahlen. Der Furcht davor, dass alles nur noch viel schlimmer kommen könnte. Schön wär’s… Aufs Gute der anstehenden zwölf Monate zu blicken, ist nämlich leichter gesagt als getan, so wie sich die ersten zwölf Tage anlassen mit Krieg & Terror, Winterhitze & dem Skandal überteuerter PCR-Tests, für den vermutlich wieder niemand – schon gar nicht der mutmaßlich Hauptverantwortliche Jens Spahn – belangt werden dürfte.
Es begann ja schon damit, dass der RBB – Schreckensgarant des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – 2023 bereits am 30. Dezember begrüßte. Medienpolitisch verhieß das kurz nach Meldungen darüber, wie RTL den ehrwürdigen G+J-Verlag ausschlachtet und Deutschlands Journalismus damit weiter Richtung Abgrund treibt, nichts allzu Hoffnungsvolles. Immerhin: Netflix gab bekannt, das überteuerte Mystery-Spektakel 1899 zu stoppen, während Pro7 daran arbeitet, bis zum Herbst eine Nachrichtenredaktion aufzubauen.
Von We love to entertain you zum Nukleus mit Public Value – wenn RTL schon am demokratischen Grundgerüst sägt, sorgt die Konkurrenz immerhin für etwas Licht im Dunkel (dass sie zuvor allerdings selber ausgeknipst hatte). Die Frage, ob es eine gute Nachricht ist, dass die Ufa ein Prequel vom Dinner for One in Auftrag gegeben hat, ist da ebenso schwer zu beantworten wie jene nach dem Abschied von Thomas Hermanns aus dem Quatsch Comedy Club, der vor 30 Jahren den TV-Humor, nun ja, verändert hatte.
Bleibt noch ein Ständchen für die Sesamstraße zum 50. Geburtstag, aber ausdrücklich keines für Stefan Aust, der angeblich mal Journalist war, als Chefredakteur der Welt-Gruppe jedoch alle Energie auf eine einstweilige Verfügung wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung gegen Jan Böhmermanns ZDF Magazin Royal verwendet, weil es ihn auf dem – viele sagen: durchaus lustigen Fahndungsplakat nach einer Lindner-Lehfeld-Bande im RAF-Stil überm Bild des veganen Querdenkers Volker Bruch nennt. Nein, so was aber auch!
Die Frischwoche
9. – 15. Januar
Die (garantiert volkerbruchfreien) Erstausstrahlungen daher in Kürze. Angelaufen ist das Serienremake des Neunziger-Melodrams Interview with the Vampire bei Sky, wo die Untoten endlich ihrer blutrünstigen Homophilie freien Lauf lassen. Netflix zeigt bereits Nicolas Winding Refns Noir-Experiment Copenhagen Cowboy parallel zum überraschenden Sechsteiler Totenfrau mit Anna-Maria Mühe als Witwe auf Rachefeldzug, was die achtteilige Reiterhof-True-Crime Riding in Darkness eher unter- als überbietet.
Heute dann zeigt die ARD zum 80. der dankenswerten Wehrmachtniederlage eine Dokumentation über Stalingrad, was zumindest nicht völlig frei von Parallelen zu Sabrina Tassels ZDF-Reportage Gun Nation zur Waffensucht der USA ist. Den Siebenteiler Gestern waren wir noch Kinder, ab heute liniear im Zweiten, hätte man sich allerdings eher im Mediatheken-Asyl gewünscht, so lausig wurde Natalie Scharfs ambitionierte Milieustudie wohlstandsverwahrloster Elitenzöglinge umgesetzt.
Bunt statt trist wird es Mittwoch bei Disney+ im Zehnteiler Welcome to Chippendales über die Anfänge der weltberühmten Stripper-Truppe Anfang der Achtziger. Blutig statt bunt gerät naturgemäß die Fortsetzung vom Spin-Off Vikings: Valhalla bei Netflix. Effektvoll statt blutig scheint die achtteilige Gewaltstudie Cry Wolf in der Arte-Mediathek zu werden. Geruhsam statt effektvoll wirkt dagegen Samuel Becketts deutsch-britische Bestseller-Verfilmung Chemie des Todes um einen Serienkiller bei Disney+ tags drauf, der anschließend auch in German Crime Story: Gefesselt auf Amazon wütet.
Und bevor Tobias Moretti mit Tochter Antonia in Der Gejagte mal wieder irgendwas mit Mafia macht, der Vollständigkeit halber: Das Dschungelcamp zurück in Australien, aber ohne Marco Schreyl, dafür mit Jan Köppen als Moderator und endlich, endlich: Martin Semmelrogge und Claudie Effenberg beim Perfekten Hodendinner.
Best & worst-of: Fernsehjahr 2022
Posted: January 2, 2023 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentHochstapler, Western, Frauen für alles
Von Jan Freitag
Das Feuilleton ist ständig auf der Suche nach Trends, auch und gerade im Fernsehen. Aber ob Telenovela, Dreiecksbeziehung, Dokudrama, Scripted Reality, Real Crime: die reine Häufung macht kein Genre modisch. Wer dieses Jahr vorm inneren Flatscreen sieht, erkennt allerdings so viele Serien ähnlicher Stoffe, dass auch 2022 Tendenzen hat – wie Platz 1-3 einer Liste zeigen, die kein Ranking darstellt, aber belegen will, was im Guten wie Schlechten wichtig war. Nämlich folgendes:
Platz 11
1899, Netflix
Am Ende die Nr. 1 – zumindest in Sachen Budget. Mit dem Achtteiler um einen Passagierdampfer, der im Bermuda-Dreieck zur Bühne eines düsteren Kostümfestes wird, hat das Dark-Duo Jantje Friese und Baran bo Odar zwar die teuerste deutsche Serie gemacht, wie üblich im Boom-Metier Mystery aber so viele Nebelkerzen gezündet, dass übersinnliche Effekthascherei unablässig aus jedem Bullauge quillt.
Platz 10
Normaloland, ZDF-Mediathek
Mockumentary um ein fiktives Neustadt, durch das Regisseur und Autor Matthias Thönnissen sich und sechs weitere Hauptdarsteller schickt, um Deutschlands Spießbürgerlichkeit zu verdichten. Fünf Viertelstunden hält uns die Realsatire aber nicht nur wahrhaftige Spiegel vor; sie verkörpert den Trend 2022, unsere Wirklichkeit kostengünstig zu übertreiben, um sie gleichsam abstrakt und ergreifend zu machen.
Platz 9
Rottet die Bestien aus, Arte
Dokus haben’s schwer im Sog fiktionaler Serien, weshalb sie sich besser bemerkbar machen. Der Fifa-Studie Uncovered gelang das mit Recherche, dem Terror-Rückblick „Die Schüsse von München“ mit Aura. Und als Raoul Peck Rassismus oder Nationalismus autobiografisch unterfüttert mit der Geschichte des Kolonialismus verband, setzte er am Weg des Erfolgsmetiers Historytainment Meilensteine.
Platz 8
The Old Man, Disney+
Wie sehr sich die alternde Gesellschaft am Bildschirm zeigt, belegen ZDF-Vorabende voller Harndrangpillenreklame. Ein Mittel, das auch Jeff Bridges den Ruhestand erleichtert, bevor er als Ex-Agent dem CIA-Nachwuchs in der siebenteiligen Gewaltorgie zeigt, was Senioren draufhaben. Klingt bieder, ist aber auf so sinfonische Art modern, dass Robert Levine und Jonathan E. Steinberg Action neu definieren.
Platz 7
Der Kaiser, Sky
Wer Heilige verehrt, droht ihnen zu huldigen. Wie Tim Trageser, der dem windigen Beckenbauer Franz ein so devotes Biopic geschenkt hat, dass nur die karnevaleske Ausstattung peinlicher ist – und somit Historytainment von Dahmer (Netflix) über Winning Time (HBO) bis Pam & Tommy oder Gaslit (Starzplay) noch sehenswerter macht, weil sie anders als Der Kaiser real statt museal wirken.
Platz 6
Landkrimi: Vier (ZDF)
Es gibt Labels, die sind fast böswillig irreführend. Dass Marie Kreutzers Milieustudie Vier unter Landkrimi lief, hat das ORF-Drama um Ursache & Wirkung eines grausigen Leichenfundes nicht verdient. Die Darstellung dörflicher Verhaltensmuster ist so intensiv, dass sie sogar Matti Geschonnecks Rekapitulation faschistischer Verhaltensmuster der Wannseekonferenz an gleicher Stelle übertraf.
Platz 5
Summer of Schlesinger, RBB
Als Arte Mitte 2016 seinen Summer of Scandals feierte, war Patricia Schlesinger zwei Wochen RBB-Intendantin. 2022 feierte der Kulturkanal den Summer of Passion, und zwei Wochen später kollabierte ihr Feudalsystem so hingebungsvoll, dass es die Klima-, Kriegs- und Energiekrise tagelang auf hintere Schlagzeilenplätze verdrängte. Natürlich auch bei Bild TV – der schönsten Pleite des Jahres!
Platz 4
Safe, Neo
In der Ruhe liegt die Kraft – nach dem Grundsatz hat Kino-Regisseurin Caroline Link ihr kinderpsychiatrisches Kammerspiel Safe nach eigenem Buch in aller Stille zum lautstarken Fanal für wahrhaftiges Fernsehen gemacht. Selten zuvor war Kommunikation ohne inszenatorischen Ballast auf schlichtere Art unterhaltsamer, was vier Heranwachsende im Cast acht Teile lang zur Höchstleistung animiert.
Platz 3
The English, Magenta TV
Seit mehr als 100 Jahren gibt es schon Western und so ganz weg war das, was einst „Cowboy & Indianer“ hieß, ja nie. Aber 1883 (Paramount+) und besonders The English haben ihn nun neu definiert. Wie Hugo Blick Emily Blunts blutigen Weg als adlige Rächerin westwärts schildert, ist von der Bildsprache über die Darstellung Eingeborener bis hin zur Tiefenpsychologie fast schon revolutionär.
Platz 2
Der Scheich, Paramount+
Alle Welt will betrogen werden. Daher heißt der Fernsehtrend 2022: „Hochstapler“, die in Serien von WeCrashed über The Dropout oder Inventing Anna bis King of Stonks das Kunststück schaffen, abstoßend und anziehend zu sein. Wobei Dani Levys Version nur letzteres war – schon, weil er den leibhaftigen Loser, der als falscher Scheich die Schweizer Oberschicht blendet, so spürbar liebt.
Platz 1
Oh Hell, Magenta TV
Der schönste Trend zum Schluss: Frauen dürfen auch seriell alles! Im Neo-Drama Becoming Charlie grandios (Lea Drinda) ihr Geschlecht variieren, im Netflix-Feuerwerk Kleo (grandioser: Jella Haase) alte Stasi-Genossen exekutieren, in der Magenta-Groteske Oh Hell (am grandiosesten: Mala Emde) sich und andere heiter bis wolkig betrügen. Auch Hochstapler gibt es nun mit -innen. Toll!
Dani Levy: Alles auf Zucker & Der Scheich
Posted: December 26, 2022 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch | Leave a commentIch bin ein bipolarer Dienstleister
Dani Levy (Foto: Sebastian Gabsch/IMAGO/Future Image) hat seit jeher ein Faible für Betrüger. Im Zehnteiler Der Scheich porträtiert hat er einen für Paramount+, der real existiert und doch unglaublich ist. Ein DWDL-Gespräch über Schein, Sein, menschliche Gier und die Achillesferse des Kapitalismus.
Von Jan Freitag
Herr Levy, wenn man sich Ihre Filme wie Alles auf Zucker oder Die Känguru-Chroniken und jetzt Der Scheich anschaut – haben Sie ein Faible für Dampfplauderer mit der Tendenz zum Blender?
Dani Levy: Meine Liebe für solche Figuren hat aber weniger mit ihren Taten als mit den Persönlichkeiten dahinter zu tun. Viele Blender täuschen aus inneren oder äußeren Zwängen heraus, nicht aus Freude am Betrug. Für die Getäuschten wiederum wird die Lüge zu einer gewünschten Wahrheit. Das faszinierende an dem Thema ist das Spiel mit Schein und Sein.
Eine der Kernfragen des Filmemachens.
Film als solches ist auch eher Schein als Sein. Im Kinofilm Das Leben ist zu lang habe ich mit der Idee experimentiert, dass er sich selbst demontiert. Nachdem die Hauptfigur erkennt, dass sie nur meine Hauptfigur ist, fängt er an, den eigenen Film zu sabotieren. Film will immer geglaubt werden, aber da war die Message an den Zuschauer: du solltest gar nichts glauben. Die Scheinhaftigkeit des Daseins mit seiner Fülle an Möglichkeiten uns unsere eigene Existenz zu erfinden, interessiert mich aber noch aus einem anderen Grund.
Nämlich?
Ob Sie jetzt soziale Medien, Werbung, oder die Politik betrachten: es gibt ja nicht nur die, die täuschen, es gibt vor allem auch die, die getäuscht werden wollen.
Wie in Matrix, wo den Leuten ein schöner Traum lieber ist als die hässliche Realität?
Wer von uns ist davon frei? Der Hochstapler ist lediglich ein begnadeter Wunscherfüller, ein Menschenkenner, der die Opfer mit der richtigen Lüge glücklich machen kann. Die Filmgeschichte ist ja voll legendärer Figuren, die sich verstellen und lügen mussten, um zu überleben. Schon im Stummfilm. Nehmen Sie Buster Keaton oder Charly Chaplin, die haben viele Figuren gespielt, die irgendwo hineingeraten und auf geradem Weg nicht mehr herausgekommen sind. Solche Dilemmata haben mich schon immer fasziniert.
Empfinden Sie sich da als Dienstleister am Publikum, dieses Bedürfnis nach Täuschung gefahrlos zu befriedigen?
Interessanter Gedanke. Wahrscheinlich bin ich ein bipolarer Dienstleister, der die Zuschauerinnen und Zuschauer mit großem Spaß täuscht, ihnen aber umgekehrt klar machen will, wie konkret die Gefahr der Täuschung ist. Ringo, unser Scheich, ist der gutherzigste, ehrlichste, mitfühlendste Betrüger und Lügner, den man sich vorstellen kann. Sozusagen der radikalste Gegenentwurf zu Hochstaplern, die gerade durch Serien geistern. Er will sich nicht mal bereichern, sondern kann niemanden enttäuschen. Als ihn eine Sozialarbeiterin fragt, ob das nicht alles nur in seiner Fantasie geschehe, antwortet er…
Fantasie ist Realität!
Ja. Filmschaffenden erfinden Geschichten und lassen sie die Zuschauer glauben. Das ist unser Beruf. Der Schnitt baut Momente zusammen, die so nicht stattgefunden haben. Drehorte, die Tausende Kilometer auseinander liegen, werden als ein Ort verkauft. Film bedient sich ständig der Lüge, aus Liebe zur Geschichte, die wir erzählen. Das ist das Paradoxe und gleichzeitig das Faszinierende. Aber Film hat eben auch die Kraft, sich selber zu sprengen, sich ständig neu zu erfinden. Das mag die Zuschauer*innen kurz irritieren, macht aber auch großen Spaß.
Ist ihr unterprivilegierter Analphabet Ringo, der sich als Scheich in die Kreise der Superreichen lügt, demnach ein Zerstörer des hyperkapitalistischen Systems, das ihn hofiert, obwohl er nicht dazugehört, oder hält er es mit seinem Betrug sogar am Leben?
Wir haben uns auch gefragt, was ihn eigentlich motiviert, wenn nicht materieller Gewinn. Der Film basiert zwar auf einer wahren Geschichte, aber die Motivation der Originalfigur bleibt bei allem, was wir über sie wissen, unklar. Er hat nicht nur Kontoauszüge mit Milliardentransfers gefälscht, sondern rechtschaffende Menschen aus bürgerlichen Stellen abgeworben, für unglaubliche Gehälter in seine Scheinfirma übernommen und skrupellos an den Abgrund gezogen. Das hat pathologische Züge, die wir Ringo nicht geben wollten. Für mich ist er ein anarchischer Clown, der einen Milliardenbetrug in Gang setzt, aber er hat einen starken moralischen Kompass.
Um ihn als Zuschauer lieben zu können?
Um mit ihm zu leiden und über ihn zu lachen. Er ist ein tragisch-komischer Held in einer tragisch-komischen Serie. Mein Humor entsteht aus der Liebe zu den Figuren. Zudem kenne ich das Problem, nicht nein sagen zu können.
Sie wären betrugsanfällig, wenn Ihnen ein Scheich Millionen dafür böte, sein Palast-Regisseur zu werden?
Ich befürchte, ja. Ich bin ein pathologischer Euphoriker, den man extrem schnell für etwas entzünden kann.
Sind Sie auch ein Zocker, der sich von einer risikolosen Profitaussicht blenden ließe?
Auch da: leider ja.
Rührt Ihre Filmliebe zu Blendern und Dampfplauderern auch daher?
Ich würde Menschen, die sich in einer Zeit, in der wir uns alle gern optimieren oder das Image frisieren, neu erfinden, wie gesagt nicht so nennen. Wenn wir von X Filme Paramount+ eine Serie verkaufen, nehme ich auch die Rolle des Traumerfüllers ein. Sie haben sich eine starke deutsche Serie gewünscht, um ihre Plattform zu eröffnen, und ich habe sie ihnen versprochen. In Momenten von Selbstzweifeln, die ich danach natürlich auch manchmal hatte, komme ich mir dann auch wie ein Hochstapler vor. Aber die Geschichte hat mich schon Jahre begleitet, auch wegen ihrer politischen Sprengkraft, und ich wollte sie einfach erzählen.
Welche politische Sprengkraft?
Der Scheich agiert zutiefst subversiv, weil er die Gier des Kapitalismus vorführt, die pure Behauptung von viel Geld öffnet alle Schleusen. Auch in ihrem Schwarzwald-Dorf sind Ringo und seine Frau Carla Outlaws, die sich gegen die patriarchale Macht ihrer Familie gestellt haben und deshalb vertrieben werden sollen.
Könnte man Ihre Haltung mit der Serie antikapitalistisch nennen?
Gegen den Kapitalismus können wir nichts mehr tun, der Zug ist seit langem abgefahren, aber er hat seine Achillesfersen, und eine davon ist die Gier, sein religiöser Fanatismus. Ringo und Carla kämpfen mit Fantasie und allen Tricks gegen ihre Versklavung; dafür haben sie meine volle Liebe und Solidarität. Im besten Fall ist eine Serie wie Der Scheich ein Störfeuer im System.
Hätte dieses Störfeuer auch ein Film werden können oder war es stets als Serie geplant?
Ich wollte ursprünglich daraus einen Kinofilm machen, das stimmt, aber es hat sich schnell rauskristallisiert, dass der Stoff besser als Serie taugt. Zudem liebe ich Serien seit Jahrzehnten und es war nur eine Frage der Zeit, selber eine zu machen.
Und wie war’s?
Viel Arbeit, aber auch großer Reichtum an Möglichkeiten. Ich mag ja, wenn’s schwierig wird, ich mag auch, wenn’s chaotisch ist, vor allem aber mag ich’s komplex. Denn während man im Film oft Entscheidungen für Einzelaspekte treffen muss, kann man in Serien mehr reinpacken, muss also weniger weglassen. Meinem Gefühl nach ist in Serien mehr erlaubt. Als Kind von Arthouse-Filmen versuche ich diese zerfledderte Fahne zwar weiter hochzuhalten, aber die Befreiung vom kommerziellen Druck gelingt in Serien, insbesondere auf Streamingportalen, gerade besser.
Ist da nicht der Wunsch Vater des Gedankens?
Nein, aus meiner Sicht wird in Serien zurzeit so viel experimentiert wie einst im Arthaus. Und zwar mit Rückkopplungseffekten auf Filme, die stilistisch, inhaltlich, philosophisch lang stagniert hatten und sich im Sog der Serien nun fortentwickeln. Die Psychologisierung einer Mafiafamilie wie bei den Sopranos bis tief ins Komödiantische: von dieser Experimentierfreude profitiert auch das Kino, das ist eine Wechselwirkung, die man zuletzt bei Fargo als Serie bewundern konnte.
Haben Sie demnach Serienblut geleckt oder sagen jetzt erst recht: Kino!
Momentan möchte ich schon deshalb wieder was fürs Kino machen, weil es der schönste Ort ist, einen Film zu sehen, und weil ich helfen will, es am Leben zu erhalten. Trotzdem habe ich Serienblut geleckt. Für mich ist Der Scheich ein exzessiver sechsstündiger Film.
Führerkult & Emirglaube
Posted: December 19, 2022 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen | Leave a commentDie Gebrauchtwoche
12. – 18. Dezember
Die WM ist aus und während viele wohl na endlich sagen, sagen andere Gott sei Dank, während der Rest ohnehin verdrängt, dass es je eine gab. Schließlich war Katar aus medienpolitischer Sicht ein Ort, an dem aus Starkult (Mbappé) ein Führerkult (Messi), Bildmacht zur handfesten Zensur und der Fußball damit unwiderruflich feudal geworden ist. Feudal war allerdings auch ein eurozentristischer Blick auf den arabischen Raum, der dabei gelegentlich romantisiert (Marokko) wurde, aber noch häufiger (Katar) verteufelt.
Für Differenzierungen, etwa die sichtbaren Entwicklungsschritte verglichen mit der ungeschorenen WM im (schon 2018 faschistoiden) Vorgänger-Ausrichter Russland, waren beim Gros der Begleittöne ebenso wenig Platz wie für (nicht grundsätzlich verwerflichen) Whataboutism historischer Verfehlungen, die insbesondere Europa mitschuldig machen an Despotien wie der katarischen. All das haben deutsche Dokus wie die von Jochen Breyer bei aller Erkenntnis zu wenig beleuchtet. Und damit zum zweiten Abschied der letzten WM-Woche.
Béla Réthy hat sein letztes Spiel kommentiert. Und obwohl viele nach 15 Großturnieren nun sicher na endlich sagen oder andere Gott sei Dank, dürfte es der Rest im Nachhinein zu schätzen wissen, wie wohldosiert der frischgebackene Pensionär 30 Jahre lang Sport und Politik ins richtige Verhältnis gesetzt hatte. Denn während sein Kollegium noch über Homophobie, Arbeitsbedingungen, Überfluss und Korruption in Katar klagten, hat das ZDF allen Ernstes Werbespots fürs totalitäre Saudi-Arabien geschaltet.
Der totalitäre Elon Musk hat unterdessen Werbung für Qanon getwittert und acht Journalist:innen von CNN bis NYT gesperrt. Angeblich, weil sie ihn gedoxxt hätten, tatsächlich, da sein kommunikativer Liberalismus vor der eigenen Haustür endet. Deutsche Mediennews sind hingegen von drolliger Arglosigkeit. Frank Plasbergs Nachfolger Louis Klamroth zum Beispiel ist mit der Klimaaktivistin Luisa Neubauer liiert, was flugs Vorwürfe der Voreingenommenheit nach sich zog. Und die Paramount-Plattform Pluto eröffnet einen Kanal nur für alte Folgen von TV total.
Die Frischwoche
19. – 25. Dezember
Was aber nicht heißt, dass Paramount+ nicht auch Streaming von Belang machen kann. Allem voran: Der Scheich, eine zehnteilige Seriengroteske die – wie das Portal schreibt – auf „wahren Lügen“ basiert. Nach eigenem Buch porträtiert Dani Levy einen real existierenden Betrüger, der sich als milliardenschwerer Sohn eines Emirs ausgegeben und das Schweizer Finanzsystem damit in Existenznot gebracht hatte.
Die Version des Hochstapelfans Levy (Alles auf Zucker) ist ab Donnerstag um einiges absurder als die Wirklichkeit – schon, weil sie die Titelfigur zum analphabetischen Impulstäter mit attraktiver Frau (Petra Schmidt-Schaller) macht. Trotzdem verleiht ihr Björn Meyer eine Wahrhaftigkeit, die bei aller Heiterkeit zu Hirn und Herzen geht. Auf ähnlich unglaubliche Art ergreifend ist die siebenteilige Real-Crime-Fiktion Under the Banner of Heaven, die Disney+ hierzulande deppert zu Mord im Auftrag Gottes macht.
Obwohl Gott (schon mangels nachweisbarer Existenz) keine Direktiven erteil, gibt es hier religiös motivierte Tötungsdelikte unter Mormonen der Achtziger, die ausgerechnet ihr uniformierter Glaubensbruder (Andrew Garfield) ermittelt. Das Resultat ist eine fundamental-christliche Version von True Detective, die Amerikas aktuelle Spaltung erklärt und trotz einiger Längen ungeheuer fesselt.
Das gilt wohl auch für den Netflix-Krimi Glass Onion mit Daniel Craig als Superdetektiv, der Freitag nach kurzer Kinoauswertung aufs Portal kommt. Sicher gilt es auch für Billy the Kid, mit dem Paramount+ tags zuvor die ewig schäumende Westernwelle weiter reitet. Und zumindest für alte weiße Incels und Klimawandelleugner, für Genderwahn-Schreihälse und überhaupt all jene, denen mitteleuropäische Männerprivilegien wichtiger sind als Gleichberechtigung oder Nachhaltigkeit, zeigt die ARD am Donnerstag den Jahresrückblick von Dieter Nuhr, wichtigstes Comedy-Ziel: Greta und die Klimakleber. Bruhaahaaaahhh.