24 Stunden Bayern: Kopie & Archäologie

24h-bayern-drehtag-122-_v-img__16__9__l_-1dc0e8f74459dd04c91a0d45af4972b9069f1135Vorsorgliche Paläoanthropologie

Oberflächlich hat der BR mit 24h Bayern (Bild: Ostkreuz Berlin/Anne Schönharting) gerade das vergleichsweise plumpe Plagiat eines Arte-Experimentes vor sieben Jahren in Berlin gedreht. Darunter aber schlummert eine Chance von fast archäologischer Bedeutung, die gern Schule machen darf. Kopie hin oder her…

Von Jan Freitag

Die Realität, heißt es im filmischen Volksmund gern, ist doch der beste Regisseur. Die Realität, besagt hingegen der zeitgenössische Publikumsgeschmack, muss dabei gar nicht so zwingend der Wirklichkeit entsprechen, um als solche durchzugehen. Da reicht bereits ein kurzer Blick ins heutige RTL-Programm: Nach dem Mittagsmagazin gaukeln Verdachts- und Betrugsfälle ebenso wie ein Blaulicht Report Tatsachen vor, die zwar allesamt erstunken und erlogen sind, vom Durchschnittszuschauer aber nachweislich verstörend für voll genommen werden. Scripted Reality eben, die Wahrheit des Fernsehkommerzes.

Umso erstaunlicher ist es da, dass sich auch die beglaubigte Gewissheit draußen vorm Flachbildschirm gut hält im Konkurrenzkampf mit dem täglichen Betrug der Privatsender. Wissenschaft, Politik, Geschichte erzielen als unterhaltsame Kofferwortformate wie Historytainment unverdrossen Topquoten, die das gemeine Dokudrama auch im Jahr 3 nach Guido Knopp verlässlich erzielt. Nachrichten und Magazine trotzen vor allem öffentlich-rechtlich dem Niedergang des Mediums. Und dann noch dieser seltsame Hang zur Echtzeitbeschreibung des Alltags.

Sieben Jahre ist es mittlerweile her, dass Arte gemeinsam mit dem RBB und zero film in einem aufsehenerregenden Echtzeitprojekt 24h Berlin dokumentiert hat. Von sechs bis sechs Uhr wurden seinerzeit ausgewählte Hauptstädter mit oder ohne bekannten Namen in Echtzeit von 80 Regisseuren mit oder ohne bekannten Namen beim Leben, Lieben, Arbeiten, Sein begleitet. Es war eine televisionäre Sensation, vom Feuilleton gefeiert, vielfach prämiert und für einen Kulturkanal mit ansehnlichem Zuschauerzuspruch bedacht. Alles so gelungen, dass Arte sein weltweit beachtetes Experiment 2014 in Jerusalem wiederholte. Und nun legt der Bayerische Rundfunk nach.

Für seine Version der Ganztagsstudie wurde vorigen Freitag ab Punkt sechs Uhr nun abermals das Leben einer Region eingefangen, nur eben diesmal im Freistaat vom ersten Kühemelken bis zum letzten Münchner Nachtschwärmer. Nächstes Jahr um exakt die gleiche Zeit wird das Ganze dann die vollen 24 Stunde nlang im BR ausgestrahlt. 24h Bayern heißt das Projekt wenig ehrgeizig, konnte aber wie einst in Berlin durchaus prominente Filmemacher gewinnen. Andreas Veiel zum Beispiel, Doris Dörrie, Marcus H. Rosenmüller, solche Kaliber. Mit 100 Kamerateams haben sie ihr Heimatland ohne die Möglichkeit nachzudrehen rund um die Uhr dokumentiert, 800 Stunden Material sind dabei zusammengekommen. Ein voller Erfolg, heißt es schon jetzt vom verantwortlichen Sender. Sogar die Flutkatastrophe im Landesosten findet darin statt.

Es mag also zunächst mal nach einer plumpen Kopie des preußischen Vorbilds klingen; im Ergebnis ist der Drehmarathon nicht nur ein Stück dokumentarische TV-Unterhaltung, sondern wahrhaftige Kulturgeschichte. Denn abgesehen von der Heisenberg’schen Unschärferelation, nach der jede Beobachtung schon durch die Präsenz des Beobachters verändert wird, betreibt der BR hiermit eine Art vorsorglicher Paläoanthropologie regionaler Allgemeinexistenz, die auch für künftige Generationen visuell erlebbar gemacht wird. Plagiat hin oder her: Im Grunde sollte also jedes Funkhaus die Gelegenheit ergreifen, diese Form der soziokulturellen Konservierung zeitnah vorzunehmen. Anders als handelsübliche Dokumentationen, Sachbücher oder Forschungsprojekte hat 24 Stunden XY nämlich die Chance, Realität nicht bloß abzubilden oder zu konstruieren. Sondern zu sein.

„Ein Bild des Lebens in Bayern, aus der Perspektive seiner Bewohnerinnen und Bewohner“, so nennt es die Produktionsfirma zero one 24 GmbH im Auftrag des BR. Klingt hochtrabend, entspricht aber durchaus der Wahrheit. Es ist eine ganz ohne Drehbuch. Wie sowas geht, will RTL gar nicht wissen.

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2 Bier – 1 Platte

Marthe-SwissSWISS & Rio Reiser

Es scheint, als hätten SWISS & Die Andern bei der Titelvergabe ihres neuen Albums Missglückte Welt, die Ereignisse rund um den Hafengeburtstag im Mai in möglichst passenden Worten zusammenfassen wollen. Da versucht eine so genannte Alternative für Deutschland zuerst den Punkrock einfach mal gänzlich zu verbieten und bringt SWISS und seiner Band dann auch noch um jede Menge Lob und Anerkennung, indem deren kritische Äußerungen den anderen Hamburger Punkern zugeordnet werden. Frech. Im zugegebenermaßen vor der Hafensause geführten Bierplattengespräch bekommt Frontmann SWISS deshalb nun Gelegenheit sich politisch zu positionieren und dabei noch über seine große musikalische Liebe zu sprechen.

Von Marthe Ruddat

Der Otzentreff in St. Pauli an einem lauen Dienstagabend Anfang Mai. SWISS hat gleich noch Probe und trinkt Kaffee, für Marthe gibt es Dithmarscher

freitagsmedien: Nachdem ich so einiges über dich gelesen habe, bin ich ja sicher, dass du heute Ton Steine Scherben oder die Dreigroschenoper mitgebracht hast.

SWISS: Haha, da liegst du ziemlich richtig! Es gibt so viele Songs von Rio, die mich sehr mitgenommen haben. Kennst du Rios Am Piano?

Nee, kenn’ ich nicht.

Ich glaube das ist auch eher ein Sampler oder so. Auf der Platte hat er Ich sitz an Land am Klavier gespielt. Einfach Wahnsinn! Aber ich soll mich hier ja für eine ganze Platte entscheiden und da müssen es dann die Scherben mit Wenn die Nacht am tiefsten… sein. Magst du das?

Ja, ein sehr emotionales Album!

Wenn die Nacht am tiefsten… erscheint 1975 und ist das dritte Album von Ton Steine Scherben. Im Unterschied zu seinen Vorgängern widmet sich das Album eher persönlichen Gefühlen als revolutionären Zielen.

Ja, find’ ich auch! Bei diesem Album bin ich wie der Pawlow’sche Hund: Du musst die Songs nur anmachen und ich hab sofort Pipi in den Augen, besonders bei Marthe-RioLand in Sicht. Das sind auch so die Songs, die ich Zuhause das erste Mal wahrgenommen habe.

Also haben deine Eltern viel Ton Steine Scherben gehört?

Genau. Im Nachhinein haben die wirklich einen überragenden Musikgeschmack. Das habe ich damals gar nicht so realisiert.

Wo siehst du die Verbindung zwischen den Scherben und der Musik von SWISS & Die Andern?

Musikalisch sind wir natürlich sehr unterschiedlich. Aber ich glaube es gibt schon Parallelen. Die erste Scheibe der Scherben war ja tierisch politisch und darauf wurden sie dann einfach festgenagelt. Als linke Band konnten sie zum Beispiel nie große Gelder für Konzerttickets verlangen, das war eher so eine Art Solispende.

Den musikalischen Wandel auf Wenn die Nacht am tiefsten… begründen die Scherben damals damit, dass sie nicht als Hausband der linken Szene betrachtet und auf politische Texte reduziert werden wollen.

Ich merke, dass wir diesen Weg auch gehen. Unsere Fans sind sehr links und das ist ziemlich cool. Andererseits kann das nerven, wenn es extrem wird und diskutiert werden muss, wer welche Musik hören darf. Ich habe überhaupt keinen Bock mich von solchen Sachen vereinnahmen oder instrumentalisieren zu lassen. Ich bin schon immer ein links denkender Mensch und brauche keinen Credibility-Stempel von irgendwem.

Die Fans, die sich in euren Sippschaften zusammentun, brauchen diesen Stempel aber scheinbar schon.

Naja, ich weiß schon, was du meinst, aber eigentlich geht es dabei um was anderes. Als dieses ganze Missglückte Welt-Ding angefangen hat, haben sich davon total viele Leute angesprochen gefühlt. Viele identifizieren sich mit unseren Texten und den Themen und Problemen, die wir ansprechen. Die Zickzackkinder sind unser engster Kreis. Sie sind in ihren Sippschaften organisiert. Das heißt aber auch, dass sie sich gegenseitig unterstützen. Wenn die Berliner Sippschaft zum Beispiel nach Hamburg kommt, dann müssen die Hamburger denen was zum pennen organisieren und so.

Das Wort Zickzackkinder ist angelehnt an den gleichnamige Roman David Grossmanns. Das Buch erzählt die Geschichte eines 13-jährigen Jungen, der auf einer Reise immer mehr über die Vergangenheit seiner Eltern erfährt. Es geht dabei insbesondere um Beziehungen und das Erwachsenwerden.

Marthe1Das klingt ja mehr nach Politik als nach Musik.

Ja, das ist schon krass. Mittlerweile sind glaube ich über 300 Leute in Sippschaften organisiert. Das ganze ist aber sehr demokratisch und hat auch immer was mit der Band zu tun. Ich habe schon immer sehr provozierende Musik gemacht und war nie ein Künstler der Industrie. Die großen Firmen haben immer gesagt, dass sie mich nicht verkaufen können, weil ich aus dem Raster falle. Wir haben aber gemerkt, dass es davon noch mehr Menschen gibt und die unser Ding feiern. Deshalb haben wir uns die nötigen Strukturen einfach selbst gebaut. Bei dem neuen Album haben die Sippschaften zum Beispiel in jeder Stadt Plakate geklebt und gestickert. Andererseits dürfen die Leute aus einer Sippschaft bei Konzerten auch schon zum Soundcheck rein, kriegen Freibier und dürfen mit uns rumhängen. Das mag ich halt. Man muss nur ein bisschen aufpassen, dass das Ganze nicht zu dogmatisch wird. Bei Neuaufnahmen gab es auch schon mal so stasimäßige Aktionen, wie: „Der hat 2013 das und das Video gepostet, können wir solche Leute dulden?“ So was nenne ich dann gerne mal Punkfaschismus und davon will ich mich lösen.

Ich frage mich gerade, warum du dich heute nicht für Keine Macht für Niemand entschieden hast…

Das ist einfach so, weil mir die Songs auf Wenn die Nacht am tiefsten… so viel bedeuten. Ich weiß jetzt nicht genau, welche Songs auf Keine Macht für Niemand sind, aber so Titel wie König von Deutschland lösen in mir halt nichts aus. Bei Land in Sicht höre ich Rios poetische Schreibe. Rio ist so ein Poet gewesen! Sag mir wer, wenn nicht er! Und besonders seine Sehnsuchtsmusik hat es mir halt angetan und diese Songs haben mich auch beim Schreiben am meisten beeinflusst. Ich glaube auch wir werden auf dem nächsten Album ein bisschen sehnsuchtsmäßiger. Gar nicht, um die Scherben nachzumachen. Aber ich glaube hier gibt es auch in Zukunft Parallelen.

 

Ton Steine Scherben – Land in Sicht

Land in Sicht, singt der Wind in mein Herz.

Die lange Reise ist vorbei.

Morgenlicht weckt meine Seele auf.

Ich lebe wieder und bin frei.

— 

Und die Tränen von gestern wird die Sonne trocknen,

die Spuren der Verzweiflung wird der Wind verweh’n.

Die durstigen Lippen wird der Regen trösten

und die längst verlor’n Geglaubten

werden von den Toten aufersteh’n.

Ich seh die Wälder meiner Sehnsucht,

den weiten sonnengelben Strand.

Der Himmel leuchtet wie Unendlichkeit,

die bösen Träume sind verbannt.

Und die Tränen von gestern wird die Sonne trocknen,

die Spuren der Verzweiflung wird der Wind verweh’n.

Die durstigen Lippen wird der Regen trösten

und die längst verlor’n Geglaubten

werden von den Toten aufersteh’n.

 

In welchen Momenten hörst du Wenn die Nacht am tiefsten…?

Ich höre die Scherben eigentlich meistens, wenn ich nicht so gut drauf bin.

Damit es dir besser geht oder um dich ein bisschen im Unglück zu suhlen?

Ich weiß was du meinst. Aber eigentlich beides nicht. Es ist eher das Gefühl, zu einem alten Kumpel zu gehen, der mich versteht. Ein alter Kumpel, der um meine Schwächen weiß und dem ich deshalb auch nichts vormachen muss.

Ist es eines deiner persönlichen Ziele, dass deine Musik auch so lange erfolgreich und bedeutend bleibt, wie die der Scherben?

Unbedingt! Ich will vor allem Songs hinterlassen, das ist ein großer Gedanke. Ich will nicht sagen, ich hab voll viele Platten verkauft, sondern, dass ein Song die Leute immer noch berührt. Ich war neulich mal im Schauspielhaus, da hat Jan Plewka Rios Songs gesungen. Und du hast bei den ganzen Leuten im Publikum den Glanz in den Augen gesehen und gemerkt, wie viel ihnen diese Musik bedeutet. Das hat mich total bewegt. Wenn ich das mit nur einem Song schaffe, das wär super. Geld ist eh eigentlich nur ein Abfallprodukt von Kunst.

Und wie willst Du das erreichen?

Ich glaube, das läuft auch darüber, wie ich meine Seele ausschütte. Es gibt Songs, die Gefühlsregungen auf einem Kommerzniveau sehr einfach darstellen: „Mein Herz brennt“, „Die Sehnsucht treibt mich“, also all diese institutionalisierten Worthülsen, die bei mir nichts mehr auslösen. Rio hat vermutlich dasselbe beschrieben, aber viel poetischere Worte gefunden. Darum geht es heute auch. Andere Worte zu finden, an denen sich die Menschen reiben. Ich will die Menschen nicht erziehen, sie sollen einfach mal drüber nachdenken, was ich sage. So ein bisschen Alexander Kluge-mäßig.

SWISS & Die Andern spielen im Sommer auf einigen Festivals und starten im Herbst eine große Missglückte Welt-Tour. Infos und Tickets gibt’s auf missglueckte-welt.de oder bei facebook. Wer die Geschichte vom Hafengeburtstag noch nicht kennt, dem sei der Beitrag von Michel Abdollahi empfohlen: https://kommentarrex.wordpress.com/2016/05/10/die-alternative-fuer-deutschland-afd-und-das-internet/.


Horrornews & Herzensprojekte

0-GebrauchtwocheDie Gebrauchtwoche

30. Mai – 5. Juni

Wen der klassenbewusste Tweed-Rassist Alexander Gauland auch immer als Nachbarn duldet oder nicht, und was die FAZ davon nun erfunden oder frei interpretiert hat: Horrornachrichten brauchen hierzulande nicht unbedingt der AfD und ähnlich brauner Gestalten; es reicht schon das Sonntagsprogramm des ZDF. Wobei man sich natürlich fragen muss, was gruseliger ist: Dass an einem gewöhnlichen Wochenendmorgen um sechs statt des putzigen Zeichentrickaffens Coco (Der neugierige Affe) versehentlich der weniger putzige Horrorstreifen Halloween (Die Nacht des Grauens) läuft? Oder dass es Erwachsene gibt, die ihre Kinder an einem gewöhnlichen Wochenendmorgen um sechs überhaupt vor den Fernseher setzen… Da braucht es dann wirklich keines blutrünstigen Psychopathen mit Eishockeymaske, um den Nachwuchs fürs Leben zu versauen.

Wobei ja auch das anschließende Angebot Richtung Pilcher-Showdown nicht grundsätzlich dafür geeignet ist, ein Dasein in Würde und Anstand zu begleiten. Selbst öffentlich-rechtlich wird darin schließlich alles leichthin dem Massengeschmack untergeordnet, was nicht bei drei nach Mitternacht laufen will. Wenn zum Beispiel ein großes Fußballturnier stattfindet, sagen wir: in Europa, dann mag es zwar in Ausnahmefällen nachvollziehbar sein, ein bedeutendes Informationsformat wie das heute-journal auf Halbzeitpausenlänge zu kürzen.

Das Zweite jedoch erweitert diese Kürzung auch auf Tage, an denen die ARD dran ist mit dem Fußball-Overkill – um das Publikum bloß nicht mit etwas Ödem wie dem übrigen Weltgeschehen von der schönsten Nebensache des Planeten abzulenken. Man möchte dem gebührenfinanzierten Staatsauftrag des Senders glatt jenes italienische Abschiedswort zurufen, mit dem sich der große graue Sportreporterwolf Marcel Reif vorige Woche nach vorwiegend wundervollen Jahrzehnten am Mikro vom Kommentatoren-Stuhl verabschiedet hat: Andiamo (Anspruch).

Willkommen (EM)!

060137-001-A_erbschaft1_04Die Frischwoche

6. – 12. Juni

TV-Zuschauern, denen die egal ist (und das sollen angeblich ein paar Tausend sein), können sich ab Donnerstag aber auch anderweitig amüsieren. Am Abend vorm Eröffnungsspiel (und 72 Stunden vorm ersten Auftritt der Deutschen Mannschaft gegen die Ukraine im Ersten) beginnt um 20.15 Uhr auf Arte eine Serie, die erneut zeigt, was skandinavisches Fernsehen dem hiesigen immer noch voraus hat: den Mut zur nachvollziehbaren Querverstrebung etwa. Die schwedische Regisseurin Pernilla August – Fans bekannter als Darth Vaders Mama in Star Wars – entfacht hier in Doppel- und Dreifachfolgen einen Streit um Die Erbschaft einer dänischen Bildhauerin, und fast nichts, was daran so sehenswert ist, wird dem deutschen Publikum je eigenproduziert zugemutet.

Figuren zum Beispiel wie Signe, uneheliche Tochter der gestorbenen Patriarchin Veronika Grønnegaard, die drei bekannten Kindern ungewollt den Nachlass (Foto: Martin Lehmann) streitig macht. Darunter Dänemarks Superstar Trine Dyrholm, der die Tricks, Allianzen und Motive im Kampf um den Nachlass in einer grandiosen Frauenfigur bündelt. Gut, solche Charaktere sind auch hierzulande möglich. 2025. Wenn das Fernsehen fast tot ist. Auch, weil es ein kühnes Psychospiel wie Jürgen Vogels Herzensprojekt Stereo, das es locker mit der radikalen Sprache des dänischen Bilderstürmers Nicolas Winding Refn aufnimmt, allenfalls in die Nische schafft.

Während Vogels gutes, aber konventionelles Finanzweltdrama Vertraue mir Mittwochs in der ARD-Primetime läuft, kämpft sein famoser Arthaus-Film um einen leidlich gesettelten Mittdreißiger im Griff von Moritz Bleibtreu am Donnerstag um 23.05 Uhr wohl vergeblich um eine sechsstellige Zuschauerzahl auf Arte, wohingegen ARZDF zur besten Sendezeit ihre Hirschhausens und Gätjens zum Rätseln bitten. Und RTL wiederholt Doctor’s Diary… Verlockender kann das lineare Programm gar nicht für Streamingdienste werben.

Halten wir uns also nicht länger mit Erstausstrahlungen auf, sondern wechseln schnell zu den Wiederholungen der Woche. Heute um 22.25 Uhr auf – Huch! – Arte: Roman Polanskis englischsprachiges Einfallstor in die Filmwelt Ekel, den Catherine Deneuve als psychisch labile Neurotikerin Carol darin 1965 in schwarzweiß vor sich selbst verspürte. Bunter geht es nicht nur optisch im Farbtipp von 1978 zu: Grease (Dienstag, 20.15 Uhr, SRTL), John Travoltas rock’n’rollende Antwort auf den anhaltenden Disco-Boom jener Jahre. Und um dem Fußball hier irgendwie doch noch die Referenz zu erweisen: Parallel dazu zeigt Arte die Wochendoku Ziemlich beste Gegner, in der die deutsch-französische Erbfeindschaft mal nicht im Schützengraben, sondern elf gegen elf ausgetragen wird. Kleine Abwechslung zum aktiven Sport.


I Have A Tribe, Whitney, Soler/Claus, Strokes

TT16-tribeI Have A Tribe

Der Mond ist ein unbegreifliches Gestirn. Einst aus der Erde herausgeschlagen, hält es sie seither so konstant in der Umlaufbahn, dass darauf Leben wie unseres entstehen konnte, macht dieses Leben aber auch beharrlich kirre mit seiner magischen Anziehungskraft. Manche Menschen so sehr, dass sie ganz entrückt sind vom irdischen Dasein und dies auch kundtun müsen. Zumindest im Falle von Patrick O’Laoghaire ist das allerdings weniger esoterisch als irgendwie weltlich abgedreht, also ein großes Glück. Der junge Ire scheint nämlich im besten Sinne somnambul zu sein, ein Mondsüchtiger, der des Tags den Trabanten anheult und daraus hinreißende Musik erstellt. Musik, wie sein fantastisches Debütalbum Beneath A Yellow Moon.

Unter dem nämlich schlafwandelt er auf seinem Piano als I Have A Tribe durch die Nacht und erzählt mit bröckelnder Stimme davon, wie es so ist, zwischen den Welten zu schweben, halb wach, halb sediert. Selbst sein Englisch entgleitet ihn in diesem Stadium, als sei er ein Immigrant in die eigene Welt, als blicke er von außen auf das, was er tut und denkt und singt. Es ist schlichtweg zum Niederknien, wie er all dies auf der goldstuckierten Bühne seines inneren Theaters vorträgt, pathetisch und doch federleicht, eine Art von existenzialistischem Chanson, den auch der gewöhnliche Einsatz von Schlagzeug, Bass, Gitarre nie aus der Nische liebenswert verspielter Popavantgarde holt.

I Have A Tribe – Beneath A Yellow Moon (Groenland)

TT16-WhitneyWhitney

Liebenswert, verspielt, nicht so wirklich avantgardistisch, aber dafür von ergreifender Schönheit ist ein anderes Debüt, das ebenfalls durch seine Stimme besticht, aber keinesfalls nur. Wirklich nicht. Im Gegenteil. Der junge Mann mit dem zuckersüßen Popfalsett heißt Julien Ehrlich, und es ist nicht die Tatsache allein, dass er zugleich Drummer von Whitney ist, die an eine Band namens The Band und ihren singenden Schlagzeuger Levon Helm – R.I.P. – erinnern; seine Epigonen aus Chicago machen eine Art von lebensbejahendem Westcoast-Folk, an dem sich seit den Beach Boys gefühlt 20.000 Formationen jeder Herkunft versucht haben, dabei allerdings entweder zu leicht oder zu schwer klangen. Whitney hingegen schaffen eine seit den Beach Boys echt selten gehörte Balance.

http://www.vevo.com/watch/US38W1633713

Ihr Debütalbum Light Upon The Lake sprüht schließlich nur so vor guter Laune, die nie aufdringlich, sondern herzenswarm wirkt. Von fröhlichen Bläsersequenzen flankiert, gehen die zehn Stücke im kleidsamen Gitarrensound von Max Kakcek eher im Kopf spazieren, als bloß hindurchzurauschen. Noch die plattesten Analogien von Sonne, Sand und Lagerfeuer erscheinen da nicht zu blöde, ja selbst gelegentliche Lalala-Choräle und Stealguitars stören eigentlich nie, wenn Julien Ehrlich von den Facetten ihrer Großstadtexistenzen singt und dabei klingt wie Neil Young wohl gern noch einmal klingen würde. Ach Musik, du bist doch am größten!

Whitney – Light Upon The Lake (Secretly Canadian)

TT16-SolerPedro Soler & Gaspar Claus

Dabei ist Musik bekanntlich nur dann eine Sensation im wahrsten Sinne des Wortes, wenn sie wahrhaft Stilgrenzen überwindet, Hörgewohnheiten sprengt. Cello und Gitarre zum Beispiel sind zwar grundsätzlich keine Antipoden, aber in zweisamer Kombination zumindest für ein popgeschultes Publikum exotisch. Wenn sie dann noch förmlich verschmelzen wie bei Pedro Soler & Gaspar Claus, müssen sich selbst Klassikfans kurz schütteln, bevor sie in Begeisterung verfallen. Wie beim gefeierten Debüt des Duos namens Barlande vor fünf Jahren, zelebriert der 77-jährige Gitarren-Virtuose aus Frankreich auch auf dem Nachfolger mit seinem halb so alten Cellisten spanischer Herkunft eine Art Flamenco-Punk, der so wohl selten vernehmbar war.

Während Soler sein Handwerk aus dem Golden Age des musikalischen Weltkulturerbes aus Spanien mit der emotionalen Präzision einer lebenden Legende seines Genres vollführt, untergräbt Claus diese Makellosigkeit mit so hinreißender Kratzbürstigkeit, dass beim Hören förmlich ein Film vor Augen abläuft. Mit Aki Kaurismäki und Jim Jarmusch in acht Instrumentalstücken durch Katalonien. Eine Reise der Sensationen.

Pedro Soler & Gaspar Claus – Al Viento (Infiné Music)

Hype der Woche

8eb90bce95e16e32ecfc4f20b0e395e2The Strokes

Ein Sound, der sein Zeitalter wenn schon nicht revolutioniert, so doch gehörig aufgemischt hat, hat es bekanntlich schwer, fern dieser Epoche Gehör zu finden. The Strokes haben so einen Sound geliefert. Garagenrock so rau, rotzig und hymnisch, wie es ihn seit der Frühphase des Grunge nur selten gab. Stroke-Rock nannte man das, der Name im Genre, höchste aller Weihen. Anderthalb Jahrzehnte später nun gibt es die New Yorker noch immer. In Originalbesetzung! Und Julian Casablancas klingt auch auf der neuen EP mit dem emblematischen Titel Future Present Past (Cult Records) noch genauso beiläufig cool wie auf dem brillanten Debüt This Is It. Dass der Vorbote zum fünften Album da nicht mithalten kann – so what?! Aufgemotzt mit ein paar elektronisch generierten Samplings in ungewohnt molligen Tonfall, wirken die sechs Stücke schließlich, als wollten The Strokes die zwei langweiligen Platten zuvor vergessen machen und ein bisschen Nostalgie walten lassen, wo sie hingehört. Versuch gelungen.


Tobi Baumann: Ladykracher & Neidkultur

TobiBaumann_Foto_TomTrambow-708x472Vergleichende Selbstoptimierung

Angenehm mittig zwischen Klamauk und Tragödie seziert der ZDF-Film Neid ist auch keine Lösung heute Abend die Generation um die 40. Ihr gehört auch Regisseur Tobi Baumann(Bild@Tom Trambow) an, der schon mehrfach deutsche Fernsehhumor-Geschichte geschrieben hat und nun sein Repertoire ins Öffentlich-Rechtliche erweitert.

Von Jan Freitag

Neid ein ist schleichendes Gift. Selbst wenn man sich noch so zufrieden wähnt, gar glücklich, schlägt es oft zu wie ein Schlangenbiss. Marie und Markus zum Beispiel: Ein Bilderbuchpaar mit Bilderbuchkindern, das morgens früh frohgemut in den Alltag startet, sitzt bald darauf im Mittelklassewagen und wird vom Neid ereilt. Es reicht der Besuch einer Designervilla mit zwei Künstlernaturen darin, einem Oldtimer davor, und schon kriecht es in die redlichen Biedermeierkreaturen – das ungute Gefühl Gleichaltriger, wenn Freunde von einst all jene Träume verwirklicht haben, die einem selbst unerfüllt geblieben sind.

So weit, so berechenbar beginnt ein ZDF-Film, der die Scham vieler Babyboomerkinder bereits im Titel trägt: Neid ist auch keine Lösung. In der Tat. Denn Markus und Marie, angenehm unaufgeregt verkörpert von Matthias Köberlin und Stefanie Stappenbeck, stapfen beim 40. Geburtstag der hinreißend lässigen Heike (Christina Hecke) mit jeder Minute tiefer in den Sumpf aus Unaufrichtigkeit und Selbstzweifel, bis eine Lebenslüge nach der anderen implodiert. Klingt nicht so recht nach Komödie. Ist aber eine. Und gewiss keine schlechte.

Auch dank Tobi Baumann.

Nach dem stimmigen Drehbuch von Johann Bunners und Martin Dolejs hat der Regisseur ein vergnügliches Drama gedreht, das sich trotz seltener Rührseligkeiten (besonders im Happyend) und Slapstickeinlagen (Laien beim Golf) geschickt vom Abgrund der Romantic Comedy solcher Sendeplätze fernhält. Darin ist Tobi Baumann geübt: Seit der Sketcheschreiber von Harald Schmidt über die Wochenshow auf den Chefsessel rückte, hat er den hiesigen Spaßbetrieb mit unpädagogischem Humor von Ladykracher über Pastewka bis zur grimmepreisgekrönte TNT-Serie Add a Friend bereichert.

Zwölf Jahre nach seinem Durchbruch mit dem Wallace-Remake Der Wixxer liefert das Privatfernsehgewächs aus Koblenz nun sein öffentlich-rechtliches Debüt, und man merkt sofort, dass Baumann beide Welten zu vereinen weiß: In Neid ist auch keine Lösung dekliniert er die Midlife-Crisis seiner eigenen Alterskohorte mit so leichtfüßigem Ernst durch, dass bis zum Schluss erfrischend offen bleibt: ist das nun eher heiter oder doch dicht bewölkt?

Beides, meint Tobi Baumann und verweist darauf, dass es in seinem ersten ZDF-Film weniger um Neid, als die „vergleichende Selbstoptimierung meiner eigenen Generation“ gehe. Wenn Marie ihrer beruflich wie privat scheinbar so erfolgreichen Freundin partout nicht gestehen mag, dass sie gar keine Ärztin, sondern Arzthelferin ist, wenn ihr bodenständiger Mann zum Klassentreffen seiner Frau plötzlich im weißen Anzug mit Hut und juvenilem Gehabe auftaucht, dann wird deutlich, wen Baumann noch meint: Die Gesellschaft im Ganzen, ihre permanente Zerrissenheit zwischen Leistungsdruck, Spaßzwang, Reifeverweigerung.

Das wirkt umso intensiver, als sie uns weder im knurrenden Ton des ARD-Mittwochs oder im infantilen Kalauergewitter von Pro7Sat1 serviert, sondern in Gestalt einer „melancholisch-heiteren Bestandsaufnahme“, wie es der Hauptverantwortliche ausdrückt. Um die hat sich Tobi Baumann bereits als Bühnenkomiker in Koblenz bemüht, bevor ihn sein damaliger Kollege Ralf Günther – später Mitbegründer der Kölner Witzfabrik Brainpool – in die „RTL-Nachtshow“ holte. Dass der Träger diverser Fernsehpreise seither auf Komödien festgelegt wird, ist ihm dabei gar nicht so unlieb. „Ich bin eher froh, in irgendwas Spezialist zu sein.“ Auch deshalb wird er längst nicht mehr pro Gag bezahlt, sondern pro Quotenerfolg, den fast jedes seiner Werke garantiert.

Von denen könnte es also künftig auch abseits der alten Kommerzschiene mehr geben, die ihn bekannt gemacht, aber auch eingeschränkt hat. Um sich zu befreien, wird er hier wieder stärker ins Drehbuch involviert. „Das Rad dreht sich da grad zurück“, sagt Baumann und lacht so, wie er über den Humor seiner eigenen Filme lachen möchte, die ein Regisseur besser witzig finden sollte, um auch andere zu amüsieren. „Mein privater Humor lässt sich nicht vom beruflichen trennen“ – davon zeugte sein legendärer Anti-Bild-Werbespot mit Anke Engelke und Christoph Maria Herbst schon 2007, bald aber auch die eigene Familie. Seine Zwillinge etwa haben Baumanns Hang zu Ironie und Schlagfertigkeit schon im Alter von zehn adaptiert. Am Set ist das von Vorteil; daheim sorgt es zuweilen für Konflikte. „Jetzt haben wir alle drei immer das letzte Wort“. Immerhin eine prima Basis für gute Komödien.