Posted: September 16, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |
Die Gebrauchtwoche
9. – 15. September
Kaum berichten freitagsmedien vollmundig, die Medienstadt Hamburg verwaise, da reagiert der noch immer ortsansässige Verlag Gruner+Jahr mit einer zutiefst antizyklischen Firmenpolitik und beordert gleich drei auswärtige Redaktionen (Neon, Nido, P.M.) aus dem Süden an die Alster. Falls das auf den Einfluss kleiner Blogs auf Standortentscheidungen großer Medienkonzerne schließen lässt, fordert dieser hier also mal vollmundig: Verlagert die Produktionsstätten der Bild-Gruppe nicht bloß vollends von Hamburg nach Berlin, sondern in den Krater irgendeines aktiven Tiefseevulkans. Und den gesamten Springer-Konzern am besten gleich mit.
Während ausgelagerte Qualitätsblätter wie Hamburger Abendblatt oder Hörzu davon ja nun unbetroffen blieben, müsste die Zeitungslandschaft nur auf publizistischen Dünnschiss wie das neue Online-Magazin für benzinsüchtige Frauen CAR.A.MIA verzichten. Oder auf die Bild-Rubrik Gewinner & Verlierer, die laut einer Auswertung von 4000 Ausgaben – Überraschung! – Linke oder Grüne praktisch immer zu Losern erklärt, Freiheitlich-Liberale und ähnliche Ellenbogenpopulisten dagegen überwiegend zu Siegern.
Das erinnert ein wenig an die Taktik des staatstragenden NDR, der nach Recherchen des – übrigens als einer der wenigen seines Fachs offensiv Bild-kritischen – Medienjournalisten Stefan Niggemeier das Porträt eines SPD-Politikers aus dem Programm warf, weil die konkurrierende CDU gegen die Ungleichgewichtung protestierte. Das ist peinlich und dumm, aber anders als bei Axel Caesars Dreckschleuder ja doch eher ein Ausrutscher.
Denn die bediente ihr nationalkonservatives Stammtischvolk nach dem Berliner Tatort vom vorvorigen Sonntag mit der Forderung von „Deutschlands härtestem Jugendrichter“, Gewalttäter einfach mal ohne Urteil, Prozess, ach, richterliche Anordnung wegzusperren. Mittelalterliche Justiz für mittelalterliche Werte in einer mittlerweile nur noch albernen Zeitung. Aber immerhin Ausdruck einer Relevanz, an der sich das doch etwas älter als mittelalte Fernsehen da die Woche über erfreuen durfte. Denn über den Dominik-Brunner-Gedenkfall Gegen den Kopf um jugendliche Bahnsteigschläger in Berlin entspann sich eine lebhafte Diskussion auf allen Digital- und Analogkanälen.
So ganz tot ist die Glotze offenbar also noch nicht. Das belegen nicht zuletzt knapp sieben Millionen Zuschauer von Die 2 gegen alle, von denen trotz der gebrauchten Moderatoren Günther Jauch und Thomas Gottschalk eine stattliche Zahl unter 59 gewesen sein sollen. Gut, die Quizshow hatte nicht viel mehr zu bieten als zwei prominente Namen an der Bühnenkante, aber immerhin: wenn das ZDF schon vornehmlich für Senioren sendet, holt RTL noch die ganze Familie vor den Flatscreen und macht sich somit, nun ja: wenigstens ein bisschen bedeutungsvoll. Fast so sehr, wie es Big Brother mal war, aber deutlich mehr, als es die aktuelle Promi-Ausgabe bei Sat1 je sein wird.
Topstars von Hasselhoff über Semmelrogge und Elvers bis hin zum üblichen Casting-Auswurf verbringen unter witzloser Anleitung der Cholerapest Pocher aus Marzahn (und durchsetzt von Werbespots für die Generation 70+) stolze 14 Tage wie gewohnt unter Kameraüberwachung, belegen aber schon am Ende des ersten neuerlich das Ende von Sat1 als seriösen TV-Kanal.
Die Neuwoche
15. – 22. September
Und stärken so seinen Ruf als Spezialist ulkiger Romanzen mit Titeln wie Robin Hood und ich. Die muss sich allerdings mit dem Besten messen, was das serielle Fernsehen hierzulande seit langem (nein – Im Angesicht des Verbrechens war mangels beweglicher Charaktere gar nicht sooo toll) hervorgebracht hat: Weissensee. Dienstag geht das Romeo&Julia-DDR-Dallas in die 2. Staffel und ist abermals glänzend.
RTL setzt dagegen mit Krimiaction à la The Following auf die gewohnten US-Bullen auf der Jagd nach irgendwas mit blablabla. Und versucht sich vor dem, was die kommende Woche zum Ende hin natürlich unschlagbar dominiert, in seiner eigenen Interpretation politischer Wahrnehmbarkeit. Denn am Abend vor der Wahl will Stern-TV-Moderator Steffen Hallaschka wissen: Wie tickt Deutschland. Dafür tut er, wofür das ZDF mit Auf der Flucht zu Recht aufs Mett bekommen hat: weiße Wohlstandskinder (vulgo Hallaschka) testweise auf Wohlstandsverlierer (z.B. Bettler) zu schminken, um so die Wirklichkeit zu simulieren, statt sich ernstlich mit ihr auseinanderzusetzen.
Aber immerhin beschäftigt sich der Sender so mal kurz über die lästigen Nachrichten hinaus mit der Bundestagswahl, zeigt dann, wenn die relevanten Sender das politische Megaereignis aufarbeiten, allerdings doch lieber den Agentenklamauk Johnny English. Sat1 dagegen schaltet schon vor der ersten Hochrechnung auf dumm und bringt das Fake-Format Die strengsten Eltern der Welt oder später (wie schon beim Kanzler-Duell) Navy CIS. Da wäre es dem Anlass angemessener, sich im aktuellen SZ-Magazin das Interview in Bildern mit Peer Steinbrücks Fuck-Finger oder besser: Das Pendant mit Angela Merkel im endlich mal geistreichen Tweet https://twitter.com/hwacookie/status/378427859221487616/photo/1 anzusehen.
Also zurück zum Anspruchsdenken, hin zu Arte. Dort gibt es Mittwochabend das volle Programm niveauvoller Unterhaltung, erst mit Fatih Akins Soul Kitchen um 20.15 Uhr, danach mit der famosen Doku Beat Generation über die Entstehung der Jugendkultur in den 50ern, um Viertel vor elf schließlich mit dem Auftakt der vierteiligen Terrorsatire Four Lions. Dass da nicht viele zusehen werden, dürfte aber weniger an der konsequenten Arte-Verweigerung großer Teile der TV-Bevölkerung liegen, als an Dortmunds Debüt in der Champions League 2013/14 im ZDF gegen wen auch immer.
Dicht gefolgt von viel zweitklassigem Europafußball am Donnerstag beim ausgewiesenen Sportsender Kabel1, der sich mit Berliner Runden im Ersten und Zweiten auseinandersetzen darf. Der Staatsauftrag schafft es also sogar, die üblichen Shows und Schnulzen zu dieser Zeit aus dem Programm zu drängen. Was ein bisschen Demokratie so alles bewirkt… Am Samstag etwa ein bisschen Wahlvorbereitung auf dem Plastikkanal Pro7, allerdings mit viel Stefan Raab, dem einzig wahren King of Kotelett kitakompatibler Politikvermittlung. Bleibt noch der Tipp der Woche: In Deutschland um die Welt, eine kleine Reise durch Deutschlands neue Ethnien, die dienstags um 22.45 Uhr auf EinsPlus zwar inhaltlich schwer einzuschätzen bleibt, mit Pierre M. Krause aber die ungewöhnlichste aller Knallchargen im Bild hat.
Posted: September 15, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 6 wochenendreportage |
Soundtrack zum Leben
Es gibt Dinge, die verschwinden einfach aus unserem Leben: Faxgeräte, Telefonzellen. Und Musikkassetten. Ihr 50. Geburtstag ist also eher ein Anlass zur Trauer, denn die Verkaufszahlen gehen längst gegen Null. Zum Jubiläum zeigen die freitagsmedien daher noch mal eine Reportage aus einer Zeit vor knapp zehn Jahren, als sich eine Schar Unbeugsamer gegen den Niedergang der MC stemmte. Nicht erfolgreich, aber voller Leidenschaft.
Von Jan Freitag
Der tägliche Gang zum Briefkasten steckt für Kristian Menke voll Hoffnung. „Heute morgen war wieder eine drin“, frohlockt der 27-jährige Hamburger und zählt die Folgen einer Schnapsidee durch. Gut 25 Mixtapes lagen bisher in seiner Post – Querschnitte privater Plattensammlungen, liebevoll arrangiert auf Kompaktkassetten. Jenen analogen Speichermedien, die ähnlich der LP allen Abgesängen zum Trotz in der Liebhaberecke überleben.
Nicht zuletzt dank Sympathisanten wie Menke. Voriges Jahr hat er mit seiner besten Freundin Dani Schuster [heute: Freitag] in der Stammkneipe namens Egal Bar das Projekt „rettet die mixkassette“ ausgebrütet. Nach dem Kettenbriefprinzip versandten sie kurz darauf Kopien hintersinnig kompilierter Eigenkreationen, baten die Adressaten per Flyer das Gleiche zu tun und erhalten seither regen Rücklauf.
Aus ganz Deutschland, Österreich, sogar Südafrika – der Freundeskreis des antiquierten Tonträgers scheint nicht groß aber grenzenlos. Und Emotionsgeladen. „Ich habe einen Teil meiner selbst abgeschickt“, preist Medizinstudent Menke seine „90minütige Symphonie“. Damit ist er aus wissenschaftlicher Sicht ein typischer Vertreter der „Generation Mixtape“. So nennen Gerrit Herlyn und Thomas Overdick 20- bis 40-Jährige, die mit den akustischen Sammelsurien mehr verbinden als aufgereihtes Liedgut. Vor anderthalb Jahren haben die beiden Doktoranden am Hamburger Volkskundeinstitut ihr Seminar „C90 – Vom Umgang mit einem technischen Speichermedium“ gestartet. Eingebettet in ein Projekt über technische Erinnerungsspeicher ist es der erste Versuch, das Phänomen Mixkassette akademisch zu ergründen.
Im Zentrum stehen für Herlyn, 33, die „Menschen hinter den Tapes“. Und Empirie, Geschenktheorie, Kommunikationsmodelle, Kulturwissenschaft, Technikforschung – schließlich leitet er eine Lehrveranstaltung für 25 Studierende. Die Resultate zeigt ab 21. Mai das benachbarte „Museum für Kommunikation“. Kassettenmixer, erklärt Kollege Overdick, 32, „sind trotz aller kulturpessimistischen Theorie keine reinen Konsumenten, sondern ganz bewusste, kreative Nutzer der Technik“. Oder besser: Audiophile Biographen mit Hang zum ausgefeilten Verpackungsdesign.
Per Annonce hat das Duo bundesweit Teilnehmer gesucht. Verschiedenen Alters, geschlechterparitätisch, mitteilsam. Die Resonanz übertraf alle Erwartungen: 80 Probanden berichteten oft stundenlang über ihre Erfahrungen mit dem Mixtape. Hinzu kamen 120 E-Mails und Briefe – gespickt mit teils intimen Bekenntnissen aus dem Mischer-Nähkästchen. „Wir konnten gar nicht alle Interessenten befragen“, meint Herlyn stolz. Ergebnis: Das Forschungsobjekt ist Kommunikationsmittel, Gedächtnisstütze und Duftmarke in einem. Es dient als Liebeserklärung, Briefersatz, Geschenk, Druckventil, Visitenkarte, Schmerzmittel oder sorgt einfach für Hörspaß. „Soundtrack zum Leben“, nennt es einer der 21 Teilnehmer, deren Berichte nun in Wort, Bild und Ton unter dem Titel „KassettenGeschichten“ ausgestellt werden.
Es dürfte nicht nur ein multimediales Happening werden, sondern auch ein sentimentales. Denn die Audiokassette hat eigentlich ausgedient. Seit die CD 1982 ihren Siegeszug antrat und Epigonen wie MD und DAT folgten, befindet sich die MC auf dem Rückzug. Kein Hersteller mag die Zukunft leerer Modelle garantieren. Jahr für Jahr bricht europaweit ein Viertel des Absatzes weg. Gingen 1991 noch 151 Millionen Stück über deutsche Ladentische, so zählte die „Gesellschaft für Unterhaltungselektronik“ 2002 ganze 24 Millionen. Und auch bespielt liegt das zumeist eisenbeschichtete Sounddepot unter zehn Prozent aller verkauften Tonträger – nur Kinderhörspiele und Volksmusik verhindern den totalen Einbruch. Dabei feierte es Mitte der 80er Jahre 60 Prozent Marktanteil.
Damals, in der bundesdeutschen Boomphase von Walkman und Auto-Hifi, verkörperten die 2,81-Millimeter-Bänder jugendliche Mobilität schlechthin. Und in der DDR waren es die teuren aber „einzig zugänglichen Tonträger, deren Produktion, Vervielfältigung und Verteilung auch außerhalb von kontrollierten Zusammenhängen möglich war“, wie die Berliner Musikforscherin Susanne Binas ausführt. Die Kompaktkassette als Kassiber und Kulturgut. Heute, 40 Jahre, nachdem der Technikkonzern Philips seine Erfindung auf der IFA Berlin vorstellte, hockt sie in der Randgruppennische. Im Pkw setzt sich der CD-Player durch, Abspielgeräte á la Walkman profitieren bestenfalls von gelegentlichen Revivals.
Philips hat sich längst aus dem Software-Markt zurückgezogen. Und die Hardware bezeichnet Sprecher Klaus Petri als „Auslaufmodell“; außerhalb von Kompaktanlagen seien Tapedecks schwer zu kriegen. Kein Wunder, dass bei ebay um fast 2000 Stück gefeilscht wird – wenngleich es MP3-Player auf dreimal so viele Auktionen bringen. Auch im Speicherbereich zeigt kein Hersteller Interesse, Lücken zu schließen. „Solange noch Nachfrage besteht“, verspricht Johannes Lerch vom BASF-Nachfolger Emtec, „wird der Produktzweig erhalten“. Länger nicht. Auch Marktführer TDK hält eine komplette Verdrängung der MC für möglich. Das deprimierendste Abstiegssignal funkt aber der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft. „Analoges Kopieren ist für uns kein Problem“, beteuert Hartmut Spiesecke, der im Fall des explodierenden Absatzes von CD-Rohlingen nicht müde wird, den musikalischen Untergang des Abendlandes zu prophezeien. Von den 2,5 Milliarden Euro hohen Verlusten durch Piraterie kosten traditionelle Raubduplikate nur 50 Millionen. Zu wenig für Gegenmaßnahmen.
Ignoriert zu werden lässt den echten Fan indes kalt. Er hat es sich in der Subkultur eingerichtet – und erregt dort fast zwangsläufig die Neugierde des Mainstream. Seit Nick Hornbys Antiheld Rob in „High Fidelity“ das Baggerpotenzial von Mixtapes verteidigte, nimmt sich die Literatur der rauschenden Materie an. Von Max Goldt (Mind-boggling) über Karin Duve (Dies ist kein Liebeslied) und Benjamin von Stuckrad-Barre (Kassettenmädchen) bis zu Christian Gassers 13 Mixkassettenregeln in „Mein erster Sanyo“ hagelt es Erinnerungen für Thirtysomethings. Der Retrowelle entgeht nichts.
Keine Großstadt, in der nicht eine Radiosendung die Mixkassette adelt, kaum eine ohne Partys unter dem Logo der seit 23 Jahren fast unveränderten Klangkörper. Reggae- und HipHop-Szene setzen eisern auf spulbare Ware, in der Hamburger „Kassettentanke“ kann man die Ergüsse der DJ’s auf sechs Tapedecks mitschneiden. Das Internet liefert Cover, Tracklists, Tauschpartner per Mausklick. Trotz Digitalisierung, trotz aller Macken erweist sich die MC als zäh. Und das, obwohl die Konkurrenz kontert, sobald sie unterlegen scheint: Wurde die Flexibilität der Kassette gerühmt, kam die wieder bespielbare CD-R, war von Längenvorteilen die Rede, erreichte die Rivalin 90 Minuten. Rohlinge sind spottbillig, Brenner gehören zum Computerstandard wie der Rückspiegel zum Auto. Faden, mischen, LPs kopieren? Am PC kein Problem mehr. Und die Mär digitaler Datenverluste erweist sich als Pfeifen im Walde audioreaktionärer Vinylfreaks.
Doch die Nachteile, sagt Seminarleiter Overdick, „sind eigentlich ihr Vorzug“. Was in der Musiktherapie gilt, wo knackende Rillen und surrende Bänder den sterilen Silberlingen oft vorgezogen werden, gilt erst recht daheim. Überlegener Klangbrillanz entgegnen Overdicks Interviewpartner analoge Geborgenheit, Bandsalat gilt als Herausforderung. Der CD, das ist Konsens, fehlt jegliche Wärme. Verlustängste steigern dieses Empfinden nur noch. Das denkt auch der Nachwuchs. Ein 17-Jähriger spricht vom „Atmosphärenspeicher“, eine 21-Jährige spürt ein Eigenleben. Von Alltagskunst ist die Rede, von Lebensläufen, Heiligtümern und Magie. „Die haben ihr Inneres nach außen gekehrt“, so Overdick, der aus Zeitmangel nur noch selten die Recordtaste drückt.
Ganz anders Kristian Menke. Der Kettenbriefinitiator hat schon wieder neue Symphonien abgeschickt – nicht zuletzt an seine Freundin in spe, natürlich. „und jetzt hebst du die linke faust und rufst laut `lang lebe die mixkassette´“, lautet die Forderung am Ende des Beipackzettels. Das klingt nach mehr als dem Pfeifen im Walde.
Posted: September 11, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 3 mittwochsporträt |
Der Gangster und sein Jäger
Jan-Gregor Kremp war lange Zeit auf kriminelle Figuren abonniert. Jetzt wird der Schauspieler mit kaum 50 Jahren der neue Alte und zeigt damit: eigentlich kann er alles. Das beweist der kantige Ruhrpottler morgen in der neuen Staffel, die zwar keine Quadratur des Fernseheis ist, aber allemal besser als seine Vorgänger.
Von Jan Freitag
Die Sache mit dem Alter muss man dem ZDF wohl doch noch mal erklären. Wer alt ist, wird es ja nicht durch Reife oder Make-up allein. Alt ist man an Jahren, und die hinterlassen Spuren im Kalender des Lebens, dem Gesicht. Wenn einer „Der Alte“ heißt, sollte das also tief blicken lassen – in Falten, in der Haut. Nur: richtig tief sind bei Jan-Gregor Kremp allenfalls die Augenringe.
Aber warum spielt der ziemlich junge, ziemlich lässige, ziemlich alles Mögliche außer alte Schauspieler dann bloß den ältesten aller TV-Kommissare im Land? Weil das Attribut „für Chef im Sinne von Weisungsbefugnis steht“, beschreibt Jan-Gregor Kremp seine neue Rolle als „Der Alte“. Weil es eine Floskel sei, um Hierarchien zu kennzeichnen. Und weil man mit fast 50 „jedem die Führungsrolle abnimmt“.
Wobei man Jan-Gregor Kremp eigentlich alles abnimmt, seit er 1991 vom Staatstheater Hannover vor die Kamera wechselte und nach kleineren Rollen mit einer kaum größeren für Furore sorgte: in Detlef Bucks „Wir können auch anders“. Sein Wegelagerer machte ihn bekannt, er stempelte ihn aber auch ab. Denn in der Folge spielte der unrasierte Charakterkopf mit der Aura zwischen Melancholie, Skrupellosigkeit und Trotz meist Schurken.
Kremp wurde der Ganove vom Dienst, durchaus liebenswert in seiner flapsigen Art, tendenziell heimtückisch. Der massige Typ aus dem Ruhrpott beherrscht schließlich wie kein Zweiter das Prinzip Druckkessel: ein Charmeur mit schönen Augen, doch ein Millibar zuviel, und… Der ideale Verbrecher also. Mit dem passenden Gesicht. Sagt sein Träger. „Das taugt halt gut für Verbrecher“, er klingt dabei nicht genervt. Warum auch: „Mit meiner Visage kann man noch viel mehr anfangen“. Das hätten auch die Produzenten irgendwann verstanden.
Und so spielt er trotz Visage, trotz Druck, trotz Image bald auch diesseits des Gesetzes alles Mögliche. Er spielt Travestieclubbetreiber („Mein Vater, die Tunte“) und Buchhalter („Weihnachten im September“), er spielt Köche („Die Quittung“), Krankenpfleger („Kammerflimmern“), Kapitäne („Untergang der Pamir“) und seit 2004, dem Einstieg als hessischer „Polizeiruf“-Ermittler, sogar den Gegenpol der Gangster. In Serie. Von da an, Kremp lacht, „fragt man eher, warum es ständig Polizisten sind“. Seine Antwort: Alles zu seiner Zeit.
Zeit also für die Nachfolge der ewig grauen Alten von Schlage eines Siegfried Lowitz? Dieser Typ Beamter, der selbst im Farbfernsehzeitalter schwarzweiß wirkte, führte die Mordkommission München II, als der kleine Jan-Gregor noch Gymnasiast im Rheinland war. Zum Familienvater gereift, könnte Erwin Kösters Epigone Richard Voss jetzt zum weißköpfigen Alte-Assi Michael Ande Papa sagen. Verrückte Fernsehwelt.
Die allerdings Veränderung noch weniger als Stagnation. „Ich musste mich schon anpassen, um die Figur nicht neu zu erfinden“, sagt Kremp und füllt sie daher in der Auftaktfolge „Königskinder“ nicht mit Druck, aber Empathie, „mal ruppig, dann humorvoller.“ So erklärt der komikbegabte Kremp den drögen Serienoldie, dem er etwas mehr Leichtigkeit, besser: Beweglichkeit verpassen will, jedenfalls Leidenschaft, gar Liebe. Schließlich wird Voss trotz befristeten Verträgen sein neues Alter Ego. Unvermeidbar. Fortlaufende Figuren haben das so an sich.
Angst davor? Vor Festlegung? Nein, beruhigt Kremp sich und andere. Eine Krimiserie werde seinen Spielraum eher erweitern als einschränken. Für Musik etwa, die er Anfang der Achtziger in Köln studiert und am Salzburger Mozarteum verfeinert hat. Kremp spielt Trompete und Klavier, er singt und rockt, ist solo auf Tour und könne das mit neun Alten im Jahr weit besser planen.
Überhaupt: Pläne. Die Gangstervisage Kremp mag es da sicher. Mit gut 50, sagt seine Kollegin Johanna Gastorf, sei es wichtig, sich anständig zu benehmen und nicht mehr positionieren zu müssen. Mit fast 50, stimmt ihr Mann Jan-Gregor Kremp zu, „muss ich nicht mehr dauernd vortanzen, um zu zeigen, was ich kann“. Nicht das einzige, was das völlig unglamouröse Schauspielerpaar vereint. Beide mimen oft Seite an Seite, beide haben einen Stall voller Geschwister, beide lieben ihr Haus im Essener Grüngürtel mit Hund, beide mögen Applaus als „Nahrungsbestandteil des Künstlers“, wie Kremp einräumt, beide „hassen den roten Teppich“, wie Gastorf einschränkt. Beide sind Kämpfer – sie gegen das Branchendiktat unbedingter Schönheit, er gegen sieben Schauspielschulabsagen, die ihn nicht vom achten Anlauf abhielt. Und beide haben kein Problem mit all den Jahren, die bereits hinter ihnen liegen. Eher schon mit dem, was nur noch bleibt, um andere Ziele zu verwirklichen.
Das Alter, da ist dem ZDF also zuzustimmen, bleibt eben doch, was man draus macht. Bei Jan-Gregor Kremp muss es eine Menge sein: Der Produzent hatte ihn schon vor zehn Jahren als Lowitz-Erben im Visier, noch keine 40. Kremp hatte keine Zeit. Schade eigentlich.
Posted: September 11, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |
Es bleibt ein großes Drama
Die ARD-Serie Weissensee war vor drei Jahren einer der deutschen Serienerfolge schlechthin – und das in einer Zeit, als die deutsche Serie quasi hirntot. Das sie wiederbelebt wurde, lag auch an Florian Lukas und Hannah Herzsprung, deren Variante von Romeo & Julia in der maximal despotischen DDR Anfang der 80er Jahre nicht weniger als brillant war. Kurz vorm Start der 2. Staffel ab 17. September und der Wiederholung der 1. (Sonntag zuvor, 0.15 Uhr), bringen die freitagsmedien ein Doppelinterview mit den beiden Hauptdarstellern.
Hannah Herzsprung: Wieso wollen Sie eigentlich uns zwei zusammen sprechen?
freitagsmedien: Weil man, was zusammengehört, nicht trennen sollte.
Herzsprung: Wie Romeo und Julia.
Oder JR und Bobby Ewing. Haben Sie je „Dallas“ gesehen?
Florian Lukas: Nur den Vorspann. Weil ich zu der Zeit abends nicht fernsehen durfte, hab ich eher „Ein Colt für alle Fälle“ gesehen. Deshalb wollte ich sogar Schauspieler werden. Glob ick. „Love Boat“ hab ick ooch jekiekt (lacht).
Herzsprung: „Love Boat“ – ernsthaft? (lacht auch) Bei mir war’s „Hart aber herzlich“. „Dallas“ lief zu spät. Erinnert Sie etwa „Weissensee“ an Dallas?
Diese Fehde zweier Familien, die doch miteinander verstrickt sind, der Bruderzwist…
Lukas: Mag sein, aber der Hintergrund unserer Serie ist seriöser, sachlicher, wenn man so will: politischer.
Eher Stasi-Serie oder Serie mit Stasielementen?
Lukas: Eher Familiengeschichte mit Stasi-Hintergrund. Es werden sehr klassische Themen in sehr klassischer Konstellation verhandelt, wobei Politik nicht bloß zurr historischen Tapete degradiert wird, vor der sich Liebesgeschichten abspielen.
Herzsprung: Aber es bleibt ein großes Drama, dass im Grunde auch ohne DDR funktionieren würde.
Tut Sie aber nicht. Wann ist die Zeit reif, die DDR filmisch ohne Stasi, Repression und Schießbefehl zu erzählen?
Herzsprung: Es gibt bereits viele Erzählungen, die das Leben in der DDR mit Leichtigkeit dargestellt haben. Dennoch wird dieses Spannungselement gern genutzt – für die Einen ist es die Erinnerung für die Anderen Neugierde am Unbekannten.
Lukas: Bei aller Unterhaltung, denen Spielfilme und Serien dieser Art dienen, würde das Element der Politik fürs Dramaturgische sicher fehlen. Aber es geht nicht nur um Stasi-Effekte, sondern den Faktor der Durchdringung, die das gesamte Privatleben erfasst. Die extreme Einflussnahme des Staates war Alltag, und sei es nur als permanente Bedrohung. Das System hat sich ja nur solange aus privaten Biografien herausgehalten, wie man sich ihm gegenüber absolut konform verhalten hat. Um es dennoch unablässig zu spüren, brauchte man keinen MfS-Offizier in der Familie; das ganze Geflecht aus Lehrern, Behörden, Spitzeln konnte dafür sorgen, dass man sein Leben mit 16 in die Tonne treten konnte. Diese Möglichkeit hat alles beeinflusst.
Herzsprung. Und wahrscheinlich ist es deshalb schwer, einen Alltag ohne gesellschaftliche Impulse seiner Zeit zu erzählen. Man braucht die Kulisse, um verstehen zu können, welchen Schwierigkeiten die Figuren ausgesetzt sind und warum sie wie handeln.
Lukas: Trotzdem war meiner damals viel normaler als man es sich im Westen vorstellen mag. Da hat man ja gern die Vorstellung einer permanenten Präsenz des Bösen. Ich hatte im Großen und Ganzen eine schöne Kindheit, auch wegen der unverfälschten Natur. Heute ist alles elektrifiziert, geharkt, gepflastert, beleuchtet, beschildert, umzäunt. In den Achtzigern konnten wir uns freier bewegen, obwohl überall in den Wäldern um Berlin Soldaten stationiert waren.
Wie war Ihr Ostbild aus Westsicht?
Herzsprung: Als die Mauer fiel, war ich acht. Die Bilder haben sich eingeprägt und ich wusste auch, dass es die DDR gab mit Menschen, die nicht grundsätzlich anders leben als wir. Darüber hinaus bin ich selten mit dem Thema konfrontiert worden. Heute ist für mich unverständlich, dass diesem Teil deutscher Geschichte so wenig Gewicht in der Schule gegeben wurde.
Lukas: Bei mir ist mit der Zeit die Einsicht gewachsen, stärker vom Alltag geprägt worden zu sein, als ich mir lange Zeit eingestehen wollte. Aber Erinnerungen verflüchtigen sich und werden überlagert durch nachträgliches Wissen. Trotzdem ist jeder Gegenstand von damals, den man bei solchen Dreharbeiten nach Jahren wiederentdeckt, wie eine Zeitreise. Bis ich 14 war, bestand überhaupt kein Zweifel, dass die Welt, in der ich lebe, unverrückbar normale Realität war.
Herzsprung: So geht es sicherlich vielen Menschen. Man richtet sich in seinen Lebensumständen ein und wenn dann auf einmal alles zusammenbricht…
Lukas: …wird unsere Normalität von heute plötzlich zur Ausnahmesituation von morgen. Meine Welt hatte sich nach 89 in wenigen Monaten völlig geändert, als plötzlich alle mit Helmut-Kohl-Plastiktüten rumgelaufen sind. Da hab ich mich erstmals von den Jublern abgewendet, weil ich schon mit 16 geahnt habe, dass da irgendwas falsch läuft. Als dann zehn Jahre später „Good Bye Lenin“ lief, hab ich die wieder wohlwollender gesehen, weil sich für Erwachsene von 1990 ein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat.
Herzsprung: Wenn Gewohnheiten plötzlich nichts mehr wert sind, kann schnell das ganze Leben wertlos werden. Genau deshalb gibt es nicht nur eine Sicht auf die DDR.
Lukas: Auch „Weissensee“ zeigt nur Facetten. Historische Stoffe werden stets mit größtmöglicher Authentizität verkauft. Das finde ich problematisch, weil für viele die Versuchung groß ist, Spiel- und Dokumentarfilm zu verwechseln. Wichtiger ist Glaubwürdigkeit.
Herzsprung: Neu an „Weissensee“ ist der Grad an Privatheit, die zugelassen wird, ihre zentrale Position in der Handlung, die die Romeo-und-Julia-Konstellation erst ermöglicht.
Was lernt das Publikum dabei?
Lukas: Schwer zu sagen. Im besten Fall liefern wir Anlass zum Gespräch, um verschiedene Erinnerungen miteinander abzugleichen. Innerhalb der Familie, des Umfelds, sogar der Gesellschaft, die das DDR-System zunehmend als Abenteuergeschichte empfindet. Ich erlebe es noch heute, dass Menschen ungläubig staunen, wenn ich Geschichten aus einer Zeit erzähle, die auch für mich tief in der ersten Hälfte meines Lebens spielen. Selbst mir erscheint die Intensität der Beeinflussung ja kaum noch begreiflich. Die meisten Menschen verhalten sich ja unauffällig und angepasst. In der DDR allerdings machte man sich mit einer Diktatur gemein, in der BRD mit der Demokratie.
Herzsprung: Ich bin in Ausstellungen und Museen gelaufen, hab Bücher und Bildbände gewälzt, Leute befragt – beim Drehen wurde dann alles Aufgenommene greifbar. Ich wollte die Zeit wirklich begreifen, weil mir der eigene Erfahrungshorizont fehlte. Die Geschichten von Katrin Sass oder Uwe Kockisch haben mich in die Zeit gezogen, so wie ich es mir auch für die Zuschauer wünsche.
Lukas: Die haben auch mir vieles erzählt, was ich kaum noch kannte. Oftmals sehr deprimierende, schreckliche Erlebnisse. Umso erstaunlicher, dass sie das heute so unbefangen spielen können. Trotzdem: wir mussten uns alle neu einarbeiten, weil unsere Figuren ja in anderen Zeiten aufgewachsen waren. Meine zum Beispiel eher kurz nach dem Mauerbau, als kurz vor dem Mauerfall, deren eher vor als nach dem Krieg. In einer Szene lese ich die „Junge Welt“ von damals und darin stand eine Theaterkritik über den jungen Uwe (lacht).
Herzsprung: Und in unserer Filmwohnung habe ich eine Zeitschrift der Requisite entdeckt, auf der Katrin auf dem Titel war. Die beiden haben eine bewegende Zeit durchlebt.
Wie alt sind Sie im Film?
Herzsprung: So um die 24. Meine Rollen sind generell etwas jünger als ich selbst, aber so festgelegt ist das Alter meistens gar nicht.
Lukas: Ich spiele seit jeher immer so vier, fünf Jahre drunter. Deswegen passen Filmbiografien häufiger nicht mit meiner realen überein. Als ich „Absolute Giganten“ gespielt habe, war meine erste Tochter schon auf der Welt. Ich musste mir diesmal richtig Diagramme zeichnen, um meine Filmbiografie nicht mit meiner eigenen durcheinander zu bringen, ein echter Lebenslauf inklusive denen meiner Eltern, die als Kommunisten in der Nazizeit emigrieren mussten. Was das für Menschen bedeutet ist wichtig, wenn man so eine Serie begreifen will.
Posted: September 10, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 2 dienstagsmarthe |
Obwohl da meist gut gebildete Erwachsene mit versierten Diskussionsleitern debattieren, reden in politischen Talkshows meist alle ständig durcheinander. Merkwürdig.
Man konnte es unlängst beim Dreikampf der Spitzenkandidaten kleinerer Parteien im Ersten sehen: da standen den zwei versierten Politjournalisten Siegmund Gottlieb und Jörg Schönenborn mit Jürgen Trittin, Gregor Gysi und Rainer Brüderle drei in Würde ergraute Spitzenpolitiker gegenüber – und alle fünf redeten im Grunde die meisten der 60 Minuten Fernsehwahlkampf durcheinander. Schon merkwürdig, wo sie alle doch etwas wirklich Wichtiges auszudiskutieren hatten.
Und so geht es ja ständig im breiten Spektrum des Talkens: in den heiteren Rederunden im Dritten lacht man sich gegenseitig das Leben schön, doch sobald es ernst wird, haarig und kompliziert, gehen die guten Sitten der Gesprächskultur den Bach runter. Warum bloß? Wahrscheinlich, weil Zuhören in der Zeit des Ereignisfernsehens ein Zeichen von Schwäche und Innehalten in der Ära des televisionären Krawalls Nachgeben ist. Weil in der Ruhe irgendwie doch nicht die Kraft des Tumultes steckt und ein gehöriger Streit eben doch mehr Aufmerksamkeit schafft als das lahme Debattenkorsett aus These, Antithese, Synthese. Oberfläche schluckt Inhalt – klingt irgendwie gar nicht nach Bildungsauftrag, klingt mehr so nach RTL2…
Posted: September 8, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |
Mit großem Bedauern teilen die freitagsmedien mit, dass das montagsfernsehen diese Woche leider ausfallen muss. Sorry dafür, ab Dienstag werden sie wie gewohnt erscheinen – es lag schlicht und einfach an mangelnder Zeit wegen Abwesenheit des Bloggers.
Auf ein Neues,
Jan Freitag, freitagsmedien
Posted: September 5, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 3 mittwochsporträt |
Waidwund in der Restidylle
Das Arte-Drama Mein Mann, ein Mörder (Freitag, 20.15 Uhr) ist selten berechenbar – trotz und wegen Veronica Ferres als kämpferisches Mutter, die sie nicht zum ersten Mal spielt, aber besser denn je.
Von Jan Freitag
Augen, so heißt es, sagen manchmal mehr als Worte. Mit einem Wimpernschlag können sie Verzagtheit ausdrücken und Hoffnung, Hilflosigkeit, Freude, Trauer, Wut, oft in so rascher Folge, dass ein einziger Blick alles vereinigt, was gelungene Melodramen ausmacht. Veronica Ferres beherrscht diesen Blick, sie hat ihn perfektioniert, er ist ihr Markenzeichen.
Wenn sie ihn also in Mein Mann, ein Mörder vor der besten Freundin ausbreitet, wenn sie Vera (Ulrike Kriener) das stetig brechende Herz ausschüttet, dabei zugleich weint und lächelt, wenn ihre vor Wut und Trotz ganz kleinen Augen den Raum doch füllen – dann zeigt Veronica Ferres ihre Kernkompetenz, mit der sie auch hier 90 Minuten in wenigen Sekunden erklären kann. So ist auch dieser Film ein Paradebeispiel dessen, was so viele an Veronica Ferres ablehnen, was aber noch viel mehr an ihr mögen. Was ihr jüngeres Werk von Marco W. über die Patin bis zur Frau vom Checkpoint Charlie, mehr aber noch die echte Frau dahinter zur innigsten Hassliebe vor den Flachbildschirmen der Nation macht.
Denn die Ferres, wie man Stars mit dem Attribut „Diva“ gern umschreibt, spielt was sie immer spielt, aber sie spielt es grandios. Die außergewöhnliche Ferres nämlich ist die eher gewöhnliche Minette Frei, deren Nachname täuscht. Eine attraktive, sanft alternde Übersetzerin und Mutter zweier wohlgeratener Kinder, schönes Heim, viel Kultur, finanziell sorglos, alles in Ordnung – würde ihr Mann sie nicht betrügen. Mit einer Jüngeren, versteht sich. Und nicht zum ersten Mal, Minette weiß das. Also spioniert sie Paul nach bis ins billige Hotelzimmer nach, kontrolliert sein Handy, folgt ihm sogar ins Liebesnest nach Prag, stets auf der Suche nach einer Wahrheit, die peu à peu in eines der vielleicht bizarrsten Happyends der Fernsehgeschichte mündet.
Bis dahin aber bebildert der Nachwuchsregisseur Lancelot von Naso das uralte Drama um Liebe, Eifersucht, Leidenschaft, Trotz und Trost in so ruhigen Kamerafahrten durchs Innenleben der deutschen Mittelstandsehe, dass Mein Mann, ein Mörder in aller Zurückgenommenheit fast in Gefahr zu geraten droht, ein eher betuliches Sittengemälde bürgerlicher Befindlichkeiten zu werden. Es wird geredet und geschwiegen. Pausenlos. Und Oliver Thiedes unaufdringliche, fast lautlose Musik aus dem Hintergrund trägt ihr übriges zur reduzierten Aura bei. Doch immer dann, wenn das fragile Gefüge wachsender Kinder und schwindender Hingabe allzu leise implodiert, sorgt der zweite Hauptdarsteller für Schwung: Ulrich Noethen.
Das jüngste von fünf Kindern einer schwäbisch-bayerischen Pfarrersfamilie kann vom Grimmschen Märchenkönig über Kästners Nonkonformist Justus Bökh bis Heinrich Himmler fast alles so glaubhaft spielen, dass es gelegentlich schmerzt. Seit er vor 18 Jahren als Arzt mit asiatischer Katalogfrau in Dominik Grafs Tatort: Frau Bu lacht brillierte, ist seine Paraderolle allerdings eine andere: der Saubermann mit fleckiger Weste. Kein Wunder also, dass der Schauspieler mit dem unscheinbaren Dutzendgesicht sogar die emotionale Tristesse der Familie Frei zum Glänzen bringt, seinen Paul besonders, dieser promiske Familienmensch um die 50, beruflich erfolgreich, leidlich attraktiv, aber unbeirrbar selbstsicher. Ein guter Mann fürs anspruchsreduzierte Wechseljahredasein mit Opern-Abo und getrennter Kasse. Kein Traumprinz, aber bei allen Schwächen im Zweifel verlässlich. So scheint es. Bis ihm seine neueste Affäre, lolitahaft gespielt von Esther Zimmerling, einen Strich durch die Rechnung macht und verschwindet. Spurlos. Dass ein Mord im Raum steht, suggeriert schließlich schon der Filmtitel. In der Eingangsszene wird er dann schnell konkret, als eine Frau schreiend vom Fenstersims in die Tiefe stürzt.
Was sich daraus entspinnt, ist jedoch kein Krimi, die Polizei tritt nicht auf, selbst das Opfer fehlt. Keine Spur von Tatort also, auch wenn bald Erpressung, Schwarzgeldkonten, gar etwas Verfolgungsaction ins Spiel geraten. Nein, wenn etwas gejagt wird, sind es nicht Mörder, sondern Ängste, statt Tätern also höchstens Geborgenheit im drohenden Verfall einer Institution namens Familie. Auf die Frage ihrer Freundin, ob sie ihn behalten will, zuckt das Opfer Minette nur mit den Schultern und nimmt die Witterung des Täters auf, der so vom Jäger zur Beute wird, was er später, als ihm die Handlung entgleitet, ins Gegenteil umdreht.
Es ist ein ständiges Wechselspiel des Nachstellens. Und es bringt immer neue Vexierbilder vermeintlicher Schuld wie Unschuld hervor. Dass darin freilich immer ein tieferer Sinn steckt, liegt auch in Lancelot von Nasos dritter gemeinsamer Arbeit mit seinem Stammautoren, mit dem er vor vier Jahren bereits das preisgekrönte Langfilmdebüt Waffenstillstand gemacht hat. Nicht zuletzt Kai-Uwe Hasenheits versiertes Drehbuch nämlich liefert dem Film jene Fallstricke menschlicher Beziehungen, die Oliver Hoese dann so ausstattet, dass darin die bürgerliche Mitte in ihrer ganzen Verletzlichkeit sichtbar wird. Der verbissene Kampf um Harmonie und Restidylle beim gemeinsamen Abendessen mit Rotwein, Schultagberichten und Geplauder wirkt vor allem deshalb so authentisch, weil Produzent Hubertus Meyer-Burckhardt das Ambiente bewusst Geld und Geist atmen lässt, ohne wie in vergleichbaren Melodramen permanent Luxus auszustellen. Mein Mann, der Mörder spielt nicht in einer Designervilla von Rem Kolhaas, sondern im gediegenen Chaos eines teilsanierten Münchner Altbaus. Reichtum light, aber real.
In ihm könnten die Charaktere tun, was ihnen das hiesige Fernsehen oft versagt: agieren, spielen, sich entwickeln, statt bloß tolle Kulissen zu dekorieren. So wird dieser Film am Ende zu dem, was er sein soll: Ein Ferres-Film, so wie jeder Film mit Veronica Ferres einer ist. Ein Noethen-Film, so wie jeder Film mit ihm einer wird. Vor allem aber ein Ensemblestück, das den Beteiligten die bekannten Stärken abverlangt, ohne ins Klischee tradierter Rollenprofile abzugleiten. Die Ferres mag dabei ihr gewohntes Habitat des waidwunden Muttertiers mit Courage beackern; sie tat es selten besser als in Mein Mann, ein Mörder. Dafür reicht ihr oft nur ein Augenblick.
Der Text ist in der Septemberausgabe des Arte-Magazins erschienen
Posted: September 4, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 4 donnerstagsgespräch |
Exotische Kulissenschieber
Der Bielefelder Kulturanthropologe und Dokumentarfilmer Dr. Thorolf Lipp (40), Inhaber der Berliner Arcadia Filmproduktion und Mitglied im Vorstand des größten deutschen Filmverbandes AG DOK sowie des Bundesverband Ethnologie, übers umstrittene Dokusoap-Format Auf der Flucht, das heute um 23.35 Uhr im ZDF wiederholt wird.
Fragen: Jan Freitag
freitagsmedien: Herr Lipp, aus Ihrer Sicht als Medienethnologe und Dokumentarfilmer – ist der gewaltige Shitstorm, der gerade aufs die ZDF-Reihe Auf der Flucht niedergeht, gerechtfertigt?
Thorolf Lipp: Die Resonanz aufs Format zeigt zumindest, dass es hierzulande aufgrund unserer Vergangenheit, aber auch des vielschichtigen, reflektierenden Publikums einen Nerv getroffen hat. In Australien dagegen, wo es zuvor in nahezu identischer Form gelaufen ist, gab es offenbar kaum Kritik.
Wobei der erste Teil von gerade mal 60.000 Menschen, also 0,3 Prozent des Publikums gesehen wurde, offenbar also mehr negative Kommentare hatte als Zuschauer.
Deshalb haben wir uns im Vorstand der AG DOK umso mehr gefragt, warum das Format auf dieses Maß an Entrüstung stößt. Das deutsche Publikum scheint mir besonders sensibilisert zu sein für solche Themen; es gibt eine vergleichsweise umfassende Medienbildung, einen starken postkolonialen Diskurs, unzählige Initiativen, die sich mit der Asylrechtsproblematik befassen. Wenn ein so vielschichtiges Thema gebührenfinanziert mit derart eindimensionaler Haudrauf-Dramaturgie bearbeitet wird, werte ich es als positives Signal, dass die Zuschauer nicht so dumm sind, wie viele Redakteure uns, also Publikum und Regisseuren, gern glauben machen wollen. Deshalb nehmen wir als Filmverband der Dokumentaristen interessiert zur Kenntnis, dass es diesen Shitstorm gibt. Wir weisen gerne darauf hin, dass es dokumentarische Ansätze gibt, die dem Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Forum und Inhalt weit mehr genügen als das, was in bestimmten Redaktionen als massenkompatibel erachtet wird. Insofern empfinde ich es als gutes Zeichen, dass diese Reihe vom Publikum nicht unkommentiert geschluckt wurde.
Aber hat das ZDF damit nicht bloß erreicht, was es wollte: maximale Aufmerksamkeit?
Absolut. Allerdings nur aufgrund der fragwürdigen Form und nicht wegen des Inhaltes. Insofern, ja, Aufmerksamkeit wurde generiert. Aber der Erkenntnisgewinn tendiert gegen Null. Wofür soll dann die Aufmerksamkeit eigentlich gut sein?
Sind Dokusoap und Unterhaltung generell für seriöse Informationen ungeeignet?
In der Regel schon. Auf der Flucht ist jedenfalls ganz gewiss keine Aufklärungsarbeit, sondern reine Selbstinszenierung. Und ohne das Fernsehen als Verantwortlichen und Geldgeber würde es diese Geschichten erst gar nicht geben. Was sich hier dokumentarisch geriert, ist von A bis Z Fiktion. Gerade Zuschauer, die weniger medienkompetent sind, werden dadurch letztlich gezielt getäuscht.
Durch die Heisenbergsche Unschärferelation, dass jede Versuchsanordnung das Ergebnis beeinflusst?
Auf diese Frage hat der Dokumentarfilm schon vor 50 Jahren eine Antwort im Cinema Verité gefunden, das den filmischen Prozess bewusst offen legt. In diesem Fall hätte man zum Beispiel die Kamerateams zeigen oder deutlich machen können, inwieweit Regisseure und Macher das Geschehen steuern. Für unerfahrenere Zuschauer ist dieser Einfluss nicht zwingend erkennbar. Es gibt verschieden Untersuchungen, in denen man Versuchspersonen Scripted Reality vorgeführt hat.
Also scheinbar echte Situationen, die nach Drehbuch gefilmt werden.
Und darin erkennen bis zu 80 Prozent nicht, dass es sich um Inszenierungen handelt.
Wäre das bei RTL2 nicht ein weit größeres Problem als bei ZDFneo, wo das Publikum erwiesenermaßen gebildeter und kritischer ist?
Schon. Und das ist ja auch der Grund für die Intensität des Widerstands. Aber Auf der Flucht ist noch wegen ganz anderer Aspekte die falsche Herangehensweise an dieses sensible Thema. Besonders problematisch ist unter anderem, dass die eigentlich Betroffenen, also Flüchtlinge, bloß als exotische Kulissenschieber ge-, sogar missbraucht werden. Es geht dem ZDF also gar nicht in erster Linie um die Thematik Flucht und Asyl, sondern die plotbasierte Dramaturgie der Heldenreise – sechs Deutsche machen sich an unserer Stelle auf den Weg, um etwas über die Welt zu lernen – soll Quote generieren.
Aber holt die plakative Darstellung das Flüchtlingselend nicht wenigstens mal aus seiner intellektuellen Weltspiegel-Nische ins Massenbewusstsein?
Würde es funktionieren, schon. Kritische Medien, auch die ZEIT, haben ja kommentiert, diese Darstellungsform sei immerhin gut gemeint gewesen. Woran sie übrigens auch scheitert ist, dass die Globalisierung hier die offensichtlich falsche Illusion erzeugt, jede narrative Form ließe sich eins zu eins aus ihrem kulturellen Kontext lösen und anderswo genauso einsetzen. Bei Realityshows von Dschungelcamp bis Big Brother mag das funktioniert haben; dass es hier misslingt sollte den Verantwortlichen zu denken geben, regionale Befindlichkeiten wieder stärker zu achten. Auch aus diesem Grund finde es richtig gut, dass dieses „Experiment“ scheitert.
Anders als das Rollentauschprinzip eines Günther Wallraff, der ja im Grunde ähnlich arbeitet. Was unterscheidet es von diesem Fall?
Das Walraffen weist durchaus Parallelen auf und ist gerade deshalb nicht unumstritten. Was ihn allerdings von den Protagonisten dieses Formats unterscheidet ist, dass er sich nicht zum Spielball einer unsichtbaren Regie macht, sondern zumindest dem Publikum gegenüber mit offenen Karten spielt. Ich als Ethnologe würde zwar nirgends drehen, wo ich nicht willkommen bin. Aber Günther Wallraff ist immerhin ein reflektierter Autor, der für die Konsequenzen seines Handelns auch selbst einsteht. Anders als eine durchkalkulierte Fernsehmaschinerie, bei der es letztlich keinen Raum für Überraschungen geben darf. Bei Auf der Flucht ist alles stets affirmativ.
Was heißt das?
Alles wird so atemlos geschnitten und erzählt, dass nirgends Raum für Fragen bleibt. Wenn jemand weint, kommt ein Close-up auf die Tränen; jede Emotion wird mit den Mitteln der Dokusoap, jeder Effekt mit Musik vervielfacht. Diese Verflachung hat sich zum Leidwesen vieler ernsthaft und gründlich arbeitender Dokumentaristen inzwischen so etabliert, dass sie vom Publikum inzwischen als Regelfall empfunden wird. Das mag bei Alltagsthemen noch harmlos sein, hier wird es der Widersprüchlichkeit und Komplexität des Themas nicht gerecht. Ich habe gerade eine Umfrage unter meinen Verbandsmitgliedern gemacht, welche Zugänge sie denn dazu gefunden haben. Und da zeigt sich, wie viele unterschiedliche Ansätze es gibt, das Thema verantwortungsvoller und reflektierter anzugehen (Linkliste am Ende des Beitrages).
Welchen Plot hätten Sie gewählt?
Gar keinen, so fängt es nämlich an. Ein Plot ist stets die extremste Form der Irrealisierung, das Leben findet ja nie nach Drehbuch statt. Ich würde vermutlich entweder einen ins Offene gedrehten, beobachtenden Film machen, oder aber auf Kollaboration mit den Betroffenen setzen, um den Flüchtlingen selbst Macht und Stimme zu verleihen, statt sie zu Statisten erwartbarer Konflikte von deutschen Hauptdarstellern zu degradieren. Ich würde mich also entweder ganz zurücknehmen oder aber mich auf Augenhöhe einbringen und dies auch dem Zuschauer deutlich zu erkennen geben.
Macht dieser Mangel Auf der Flucht also zu dem, was in Tausenden Tweets und Kommentaren auf Rassismus, Zynismus und Menschenverachtung verkürzt wird?
Es spielt zumindest eine wichtige Rolle, dass dieses Format ganz, ganz weit hinter der Epistemologie zeitgenössischen Filmemachens zurückbleibt. Das Vorgehen von Auf der Flucht ähnelt einer eigentlich längst vergangenen Attitüde, wo weiße Regisseure aus der westlichen Wohlstandsgesellschaft die Definitionsmacht hatten und in den Elendsquartieren der 3. Welt die Puppen tanzen liessen. Die Flüchtlinge selbst sind hier nur Randfiguren und selbst die deutschen Protagonisten werden letztlich zu Objekten degradiert. Inklusive der dramaturgisch gewollten Möglichkeit, dass sie sich aufgrund ihrer oft im Affekt geäußerten, nicht selten ziemlich unreflektierten Meinungen auch zum Gespött des Publikums machen. Das bietet in der Tat alle Voraussetzungen für Rassismus, Zynismus und Menschenverachtung.
Macht all dies Auf der Flucht zu schlechtem oder bloß schlecht gemachtem Dokumentarfernsehen?
Darüber haben wir im Verband intensiv diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es zunächst mal gar keine dokumentarische Form ist, sondern hochgradig fiktional. Die AG DOK will sicher keine Geschmackspolizei sein, aber doch darauf hinweisen, dass diese Herangehensweise eine Verachtung all derjenigen ist, die sich – oft unter Einsatz von hohem persönlichen Risiko – um einen wirklich dokumentarischen Zugang bemühen. Allerdings erfordert das von den Verantwortlichen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen den Mut, Risiken einzugehen und sich auf die unkalkulierbare Wirklichkeit einzulassen. Tatsächlich funktioniert das System inzwischen genau anders herum: Bei „Auf der Flucht“ ist alles im Voraus geplant. Dramaturgisch gesehen kann nichts schief gehen und die Sendezeit wird sich mit dem dafür zur Verfügung stehenden, übrigens sicher nicht gerade schmalen, Etat, ganz sicher füllen lassen. Das Ergebnis steht von vorneherein fest. Ich wiederhole mich: Aufmerksamkeit wurde generiert. Aber der Erkenntnisgewinn tendiert gegen Null.
Auswahl an Produktionen zur gleichen Thematik von Mitgliedern der AG DOK:
http://www.agdok.de/de_DE/movies_detail/21940
http://www.agdok.de/de_DE/movies_detail/34188
www.desplazado.de
www.dw.de/wildfremd
http://www.blick4.de/index.php?id=42
http://www.youtube.com/watch?v=izd3veERAaU
Posted: September 3, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 2 dienstagsmarthe |
In der Fiktion hinterlassen selbst schwerste Gewaltverletzungen eigentlich nur im Gesicht von Bruce Willis bleibende Schäden. Merkwürdig.
Es geschah in einem Zeppelin, hoch überm Atlantik, als der Held förmlich zu Mus geprügelt wurde. Ohne Unterlass droschen ein paar Nazis so heftig auf ihn ein, dass er sich halb sterbend durchs RTL-Luftschiff Die Hindenburg zur Kabine seiner Angebeteten schleppte – wo er sodann kurz ins Badezimmer ging, sein blutüberströmtes Gesicht wusch und mit einem winzigen Cut unterm Auge zum Liebesakt schritt. Wahnsinn, welch schönheitschirurgische Wunderwirkung einige Tropfen Wasser auf der Haut haben können.
Das nun mit gutem Make-up zu erklären, den Segnungen von Maske, Licht und Kamera oder auch nur ästhetischen Erfordernissen der Primetime, die es nicht so gern fleischwundig mag, griffe aber zu kurz. Dahinter steckt neben dem wachsenden Appetit auf optische Makellosigkeit im Stromlinienfernsehen auch der tief verwurzelte Wunsch nach Apotheose und Seelenheil, nach himmlischem Beistand fürs Gute im Ringen mit dem Bösen, nach göttlicher Gnade quasi, vor allem aber: nach echten Heroen, solchen, die selbst physikalischen Gesetzmäßigkeiten aushebeln und offene Arterien einfach mit charmantem Lächeln abdichten. Was braucht es da noch Ärzte…
Posted: September 2, 2013 | Author: Jan Freitag | Filed under: 1 montagsfernsehen |
Die Gebrauchtwoche
26. August – 1. September
Tja, großer Stefan, klein und schäbig fühlt es sich an unter klugen Menschen, nicht so erhaben und riesig wie unter den medialen Zwergen deines Senders, die bekanntlich nur lange Schatten werfen, wenn die Sonne der Kultur tief steht. Dass sie den Horizont grad küsst, zeigt indes schon, dass die ProSiebenSat1 Media AG keinen Journalisten, sondern einen Clown ins Kanzlerduell schickte – auch wenn ihn sein Haussender im Vorspann zur „Journalismus-Elite des deutschen Fernsehens“ zählte (an dessen Namen sich Peer Steinbrück zwischendurch völlig zu Recht nicht erinnerte).
Das ist jedoch nicht nur grotesk, da Raabs journalistische Kompetenz durch redaktionell präparierte Fragen wie der, warum die Kanzlerin nicht einfach jährlich eine Milliarde Schulden zurückzahlt, statt neue aufzunehmen, über die der Super Illu rutscht, sondern da bereits seine Präsenz das Niveau der Kollegen in RTL-Tiefen zog. Dessen Vertreter Peter Kloeppel fragte Angela Merkel, ob ihr Peer Steinbrück leid tue, Anne Will haspelte im Dienste der ARD heftig und selbst der soliden Maybrit Illner (ZDF) ging es oft eher ums eigene Image als Antworten. Umso erstaunlicher ist es, dass fast 18 Millionen Menschen zusahen, knapp zwei Drittel davon im Ersten, die wenigsten beim Raab-Kanal, wo man es gemeinhin interessanter als Politik findet, ob einem B-Promi beim Turmspringen die Schamlippen aus dem Tanga blinzeln.
Wo man überdies wohl wenig von einem Magazins namens Spiegel weiß, also auch nichts davon mitkriegt, wie er sich gerade in seine Einzelteile auflöst. Obwohl der Vergleich hinkt – im Grunde haben sowohl Mitarbeiter AG als auch Ressortleiter beeindruckende Einigkeit belegt, als sie den Wechsel des Kanzlerinnen-Kumpels Nikolaus Blome aus dem Hauptstadtbüro vom „Kampfgeschoss der Dummheit“ zum Vize des „Sturmgeschützes der Demokratie“ untersagt haben. Zu blöd, dass sich der neue Chef Büchner einen Dreck um den redaktionellen Einfluss beim Spiegel schert und den NSA-Fan Blome doch in die Blattspitze berufen wird. Der schlechte Atem von Europas schlimmstem Hetzblatt narkotisiert also auch die Souveränität von Europas größtem Nachrichtenmagazin.
Und nicht nur die. Mit Sven Gösmann, einst Vize bei der Bild, wird gleich das nächste Springer-Gewächs zu Höherem berufen – als neuer dpa-Chef, womit er – hoppla – Wolfgang Büchner nachfolgt. Dürfte also nicht lange dauern, bis Nico Hofmann aus dieser Personalrotationsfarce ein Zeitgeschichtsevent macht. Erst nachdem der Haupthistoriker des deutschen Films natürlich, wie vorige Woche angekündigt, seine RTL-Dramedy über Schleckerfrauen sowie Der Informant, Edward Snowdons fiktionales Biopic fertig gestellt hat.
Und zwischendurch passiert ja dann auch noch etwas, das selbst Raabs gestrige Talkdilettanz nicht verhindern kann: Die Bundestagswahl. Dafür laufen derzeit wieder diese meist unfreiwillig komischen Werbespots teilnehmender Parteien. Unfreiwillig peinlich war dabei allerdings das Werk der FDP, in dem eine fröhliche Bilderbuchfamilie für die FDP warb, was sie dummerweise – wie das Medienmagazin Zapp herausfand – zudem nicht nur für einen finnischen Quark tut, sondern auch für die NPD. http://kress.de/mail/alle/detail/beitrag/122778-tv-spot-panne-fdp-und-npd-werben-mit-derselben-familie.html. Einmal lief der Spot im ZDF, bevor die FDP ihn bearbeitet hatte. Was ihn übrigens von den meisten Beiträgen der zwei Großparteien unterscheidet. Die SPD nämlich schaltet 100 ihrer 116 Ausstrahlungen im Privatfernsehen. Bei der CDU ist das Verhältnis gar 140:16. Was aber auch egal ist, weil der Spot 90 Sekunden bloß Angela Merkel zeigt, also mit Politik ohnehin nichts am Hut hat.
Die Neuwoche
2. – 8. September
Das hat er dann mit einer wie – so nennt sie sich selber! – „Bauern-Bause“ gemeinsam, die relevante Themen auch in ihrer täglichen Talkshow inka! ab heute um 15.05 Uhr alltäglich im ZDF meiden wird wie der RTL-Zuschauer ZDFneo. Dort wird er also ab Donnerstag nicht dem sympathischen, oft anspruchsvollen Manuel Möglich um 22.15 Uhr dabei zu beobachten, im neuen Interview-Format Heimwärts mit… bemerkenswerte Prominente zu befragen, zum Auftakt: Wolfgang Niedecken.
Vermutlich würde der gemeine RTL-Zuschauer allerdings auch irritiert abschalten, wenn er sich morgen versehentlich zum Tagesschau-Kanal ARD verirrt, wo zwei Journalisten des deutschen Fernsehens, die diesen Namen auch verdienen (Jörg Schöneborn, Siegmund Gottlieb), das (männliche) Spitzenpersonal von Grünen, Linken, Liberalen (Trittin, Gysi, Brüderle) zum Duell bitten. Das Erste ist dem gemeinen RTL-Zuschauer ja ohnehin zu vertrackt, da kann sich Judith Rakers dessen Anspruchsdenken intellektuell noch so anpassen, wenn die scheinbar doch eher schlichte Nachrichtenschönheit im Interview der Hamburger Morgenpost fehlende Parkplätze in der Hafencity als größtes Problem der Hansestadt anprangert. Wenn sie heute Abend endlich einen gefunden hat, wird sie also vermutlich Sat1 einschalten und auf eine süßliche Romanze hoffen – allerdings enttäuscht werden. Denn der Schnulzensender zeigt stattdessen das eher sachliche Melodram Willkommen im Club, wo ein zerrüttetes Paar (Richy Müller, Lisa Martinek) im Ibiza-Urlaub mit einer Ladung Bootsflüchtlingen konfrontiert wird. Das Ganze suppt zwar letztlich Richtung seifiges Happyend, ist aber die seriöseste Bearbeitung dieses heiklen Themas, das es je im kommerziellen Fernsehen gab.
Und wo wir grad dabei sind, das Unlobbare zu loben, fahren wir doch mal mit der Unlobbarsten überhaupt fort: Veronica Ferres. Die spielt im Arte-Drama Mein Mann, ein Mörder am Freitag zwar wie immer das Gleiche – eine Frau im Kampf um Kind und Kegel; sie tut es aber als betrogene Frau vom gewohnt grandiosen Ulrich Noethen ausgesprochen versiert. Was also erstmals einen Ferres-Film – Achtung! – empfehlenswert macht. Ebenso wie den australischen Achtteiler The Slap, der tags zuvor an gleicher Stelle die Konsequenzen einer einzigen Ohrfeige aus acht Perspektiven zeigt. Oder Under The Dome, eine Spielberg-Serie Under nach King-Motiven auf Pro7 (mittwochs, 20.15 Uhr), in der eine riesige Glaskuppel allerlei innere wie äußere Konflikte einer amerikanischen Kleinstadt zutage fördert. Zumindest anfangs spannend.
What else? Da Freitag WM-Qualifikation in Österreich ist, fällt Samstag die Sportschau aus, wird allerdings durch die bemerkenswerte Doku Ist Olympia noch zeitgemäß? um 19 Uhr ersetzt, die sich vielleicht sogar an heilige Kühe wie deutsche Funktionäre wagt. Und tags drauf dann kommt der Tatort nach dem miesen Schweizer Ausritt vom Vorwochenende nun wirklich aus der Sommerpause. In Berlin nämlich, wenngleich zum populistischen Thema Jugendgewalt, das um 23.35 Uhr passenderweise um die Wiederholung des Skandalfilms Wut von 2005 ergänzt wird. Zum Tipp der Woche: Die 2. und letzte Staffel der charmanten, aber erfolglosen US-Serie Apartment 23, dienstags, 21.45 Uhr, auf Pro7.